Young Stage Leverkusen„Wir alle sind Kinder dieser Stadt“
Leverkusen – Die Sache mit dem Adrenalin ist schwierig. Manchmal steckt so viel davon im Körper, dass man vor Energie schier platzen könnte. Daher stammt ja auch die wohlbekannte Redewendung: „Es muss raus.“ Und natürlich muss „es“ erst recht vor so einer Premiere wie dieser raus: Ein Jahr lang haben die Jugendlichen, die an diesem Abend und in diesem Augenblick kurz vor Knapp hinter der Bühne des Erholungshauses stehen, geprobt und gelernt, was sie gleich dort draußen vor ein paar Hundert Zuschauern zeigen werden: Das Singen. Das Tanzen. Das Schauspielern. Ein Zurück gibt es nicht. Es gibt nur ein „Los jetzt!“ Und eben diesen bei jedem aus der Gruppe sicht- und spürbaren Adrenalinüberschuss, den Arthur Horváth, der Chef und kreative Kopf hinter diesem Projekt des Leverkusener Vereins Young Stage, auf seine Weise bekämpft.
Volle Konzentration
Die sieht so aus: Kreis bilden. Die Menschen neben sich um die Schulter packen. Still sein. „Handys aus. Ab jetzt ist Einlass. Ab jetzt kann jedes Wort, was wir hier zu laut sprechen, draußen vor der Bühne gehört werden. Das würde die ganze Stimmung kaputt machen!“ Für diesen Moment sei die ganze Arbeit zuvor gewesen, sagt er beschwörend. Nun sollen sich die Jungen und Mädchen endlich ihren verdienten Lohn, den Applaus, abholen. Sollen den Saal „rocken“. Was nichts Anderes heißt als: Das Adrenalin darf nicht in nervöses Rumgerenne, hysterisches Lachen oder verzweifeltes Mit-dem-Handy-Rumspielen münden. Es muss auf der Bühne in die Show geleitet und den Leuten im Saal entgegengeschleudert werden. Mit Verve und Begeisterung.
So kommt es dann auch: Die knapp 50 Jugendlichen auf der Bühne – die von knapp 30 weiteren, im Hintergrund arbeitenden Altersgenossen flankiert und unterstützt werden – legen los mit dem Musical „1904“. Und zeigen erstens, dass Fußball auch im Theater verdammt gut klappt. Und dass zweitens eine Gruppe von 80 Jungen und Mädchen, die sich in Sachen Nationalität, Herkunft sowie Bildungs- und Gesellschaftsschicht so maximal wie es nur geht voneinander unterscheiden – Grenzen und Abgründe im Kopf überwinden können. Wenn sie sich und ihre Mitstreiter einfach nur als das sehen, was sie sind: Menschen, die sich einer Sache verschrieben haben und erkennen, dass jeder eine Stärken hat, die er oder sie einbringen kann. Man könnte auch sagen: So beginnen Revolutionen im Kleinen einer großen Welt, die vielerorts aus allen Fugen geraten scheint.
Das Rahmenwerk im Mittelpunkt
Was die Premiere über diesen verbindenden Aspekt – den sich die seit 2013 mit Jugendlichen zusammenarbeitenden Young-Stage-Verantwortlichen auf die Fahnen geschrieben haben – so besonders macht, das ist das Rahmenwerk. Das liebevoll ausgetüftelte Ausweiten des Tanzens, Singens und Schauspielens bis ins Detail. Denn es geht ja um Fußball. Um die Geschichte des Bayer-Fans und Nachwuchskickers Mike Kessler (bei insgesamt vier Aufführungen im Wechsel jeweils famos gespielt von Moses André Ndofula und Kay Sahin), der es mit Rückschlägen und dank der Hilfe seines Opas und seiner Freundin Hanna bis in die Werkself schafft. Und dieser Fußball wird gelebt.
Zum Beispiel mit Videos aus der Bayer-04-Historie: Rüdiger Vollborn macht die Elfmeterschützen Espanyol Barcelonas im Europa-Cup-Endspiel 1988 mit rudernden Armen und scheinbar aus allen Skelettverankerungen geklinkten Gliedmaßen kirre, Ulf „der Schwatte“ Kirsten köpft Bayer zum Pokalgewinn in Berlin. Oder mit kombinierten Bayer-04- und Young-Stage-Schals, die auf jedem Sitz des Saales ausgelegt bereitliegen und zum pumpenden Pop-Funksong „Unser Herz schlägt schwarz und rot“ von den Leuten im Publikum gewedelt werden. Und nicht zuletzt mit Hip-Hop-Tänzern im Trikot, mit Tacklings und Blutgrätschen auf der Bühne.
Am zweiten Abend der Aufführungsserie ist den Darstellern und Zuschauern im Saal letztlich gar das parallel zur Show im nur wenige Kilometer entfernten Stadion ablaufende 2:4-Drama der echten Werkself-Profis gegen Dortmund schnurzpiepegal. Weil hier auf der Bühne eine junge Truppe im Bayer-Geiste gerade einen Kantersieg einfährt und zeigt: Im Fußball geht es, wie im Leben, nicht immer nur um das nackte Ergebnis. Es geht um das große Ganze und die Begeisterung und Herzensliebe.
Selbst gemacht von A bis Z
Zudem sind da ja auch noch jene Ensemblemitglieder, die nicht auf der Bühne stehen und die ihre opulent selbstgestalteten „1904“-Programmhefte verkaufen. Die den Gästen selbst zubereitete Speisen servieren. Oder die als Nachwuchstechniker erst dafür sorgen, dass die Sache mit dem Licht und dem Ton und diesen zig Videos und Bühnenbildern auch wirklich funktioniert.
Schlussendlich schenken all diese Dinge dem Stück eine gehörige Portion Lokalkolorit und eine „Wir alle sind Kinder dieser Stadt“-Attitüde, die Leverkusen als Stadt ohne Geld zwischen Metropolen nicht selten tatsächlich dringend braucht. Die Young-Stage-Mitglieder rühren Herzen an. Die Darsteller werden durch eigenen Antrieb dazu gebracht, über sich hinauszuwachsen. Und die Zuschauer werden nach gut eineinhalb Stunden in den maximalen Applaus-Modus versetzt.
Und das Adrenalin? Da ist verpufft in der Atmosphäre des „Wir sind ein Team. Wir können alles.“ Und macht – an verschwitzten, lachenden und sich gegenseitig in die Armen fallenden Jugendlichen leicht zu erkennen – anderen Stoffen Platz: Glückshormonen.
Ausverkaufte Vorstellungen im Erholungshaus
Die Premiere von „1904“ war auch ein Treffen jener Menschen, die in der Stadt mit Politik, Sport oder Kultur zu tun haben. Den Bayer-04-Schal schwenkten unter anderem Fernando Carro (Geschäftsführer Bayer 04 Fußball GmbH), Carros Vorgänger Michael Schade, Meinolf Sprink (Leiter Kommunikation/Marketing/Medien sowie Direktor Fans/Soziales der Bayer 04 Fußball GmbH), Oberbürgermeister Uwe Richrath, Kulturdezernent Marc Adomat, Bayer-Kultur-Chef Thomas Helfrich, und Schauspieler Jan-Gregor Kremp (Young-Stage-Schirmherr).
„1904“ ist das dritte Musical, das die Verantwortlichen des Young Stage e.V. um den Intendanten Arthur Horváth seit 2013 gemeinsam mit Jugendlichen aus Leverkusen auf die Bühne bringen. Der „Leverkusener Anzeiger“/„Kölner Stadt-Anzeiger“ ist von Beginn an am Projekt beteiligt. Drei Hauptvorstellungen gab es am Freitag-, Samstag- und Sonntagabend sowie eine Zusatzshow Sonntagmittag – so viele wie bei keinem Young-Stage-Stück zuvor. Die Abendshows waren mit jeweils gut 800 Zuschauern alle ausverkauft. Am Sonntagnabend gaben sich Spieler aus der Aufstiegsmannschaft von 1979 die Ehre, mittags kam eine größere Fangruppe aus der Nordkurve. (frw)
www.young-stage-leverkusen.de