Wiehlerin schult wegen Corona umVon Gamerin zur Fachinformatikerin in der Pandemie

Lesezeit 4 Minuten
Neuanfang: Seit 1. Januar absolviert Marie Groos aus Wiehl-Oberwiehl eine Umschulung. Auslöser war auch Corona.

Neuanfang: Seit 1. Januar absolviert Marie Groos aus Wiehl-Oberwiehl eine Umschulung. Auslöser war auch Corona.

Wiehl – Fremdsprachenkorrespondentin, Fließbandarbeiterin in der Fleischverarbeitung, Verpackerin bei einem Kosmetikhersteller. Dazwischen Praktika, Aushilfsjobs, ein rasch abgebrochenes Studium und auch Hartz IV: Mindestens zehn halbwegs feste Arbeitsstellen hat Marie Groos nach ihrer Ausbildung angetreten, zuletzt steht sie bei einer großen Firma in Oberbergs Süden an der Maschine und prüft Teile auf ihre Qualität, bereitet sie für den Versand vor. An die Stelle gekommen ist sie über eine Leiharbeitsfirma, den Festvertrag bei dem Unternehmen selbst hat sich Groos hart erkämpft, wie sie sagt.

Die heute 41-Jährige schuftet im Schichtdienst. Sie arbeitet bis zur völligen Erschöpfung, bis zur physischen und auch zur psychischen. „Als ich im Sommer 2019 dann an einem 180 Grad heißen Ofen stand, bin ich plötzlich umgekippt“, blickt die Oberwiehlerin zurück. „Tatsächlich war dies der stabilste Job, den ich jemals hatte. Ich wäre gerne dort geblieben. Aber das war auch der Anfang vom Ende: Nichts ging mehr.“ Und dann kam Corona.

Corona stresst Groos mehr als Nachtschichten

In den folgenden Auszeiten aufgrund von Krankheit und Therapie gerät Marie Groos ins Grübeln, denkt über ihr Leben nach, den Job und darüber, wie es überhaupt weitergehen soll. Gelernt hat sie nach dem Fachabitur den Beruf der Kaufmännischen Assistentin für das Fremdsprachen-Sekretariat, gearbeitet hat sie in dem Beruf aber nie.

„Hinzu kam bei meiner letzten Arbeit, dass der Umgang mit den Corona-Regeln dort immer lascher gehabt wurde, sodass es immer wieder zu Infizierungen kam“, sagt Groos. „Auch deswegen war mir klar, dass ich dort weg musste, so cool meine Kollegen auch waren. Aber Corona bedeutete schließlich – neben den Nachtschichten – den größten Stress.“

Gamerin wird Fachinformatikerin

Sie rafft sich auf, meldet sich bei der Agentur für Arbeit und landet bei der „Berufsberatung im Erwerbsleben“, einer Berufsorientierung für Beschäftigte der auch für den Oberbergischen Kreis zuständigen Geschäftsstelle in Bergisch Gladbach. Die im Januar vergangenen Jahres eingerichtete Beratungseinheit will Menschen, die einen festen Arbeitsvertrag haben, Unterstützung bei einer Neuorientierung bieten.

Für Marie Groos sind die Gespräche mit Beraterin Susanne van der Coelen ein Glücksfall: Am 1. Januar hat Groos, die aus Herborn in Hessen stammt und 2003 in die Stadt Wiehl gezogen ist, über die Industrie- und Handelskammer in Siegen eine zweijährige, geförderte Umschulung zur IT-Fachinformatikerin mit dem Schwerpunkt Anwendungsentwicklung begonnen. „Ein echter Traum, alles läuft bisher super“, schwärmt die Oberwiehlerin. „Als junge Frau war ich als Gamerin in den Neunzigern ein absoluter Exot, da hätte ich mich niemals in die Computerbranche gewagt. Auch hatte ich nicht die Noten dafür.“

Beratungsbedarf steigt in der Pandemie deutlich

Mit ihrem alles andere als geraden Weg in ein Arbeitsleben ist Marie Groos nicht allein. „Ganz im Gegenteil“, sagt Beraterin van der Coelen und berichtet von einem insbesondere seit zwei Jahren stark wachsenden Beratungsbedarf: „Pro Monat führe ich heute 30 Beratungen allein mit neuen Klienten, das sind bis zu vier Gespräche an einem Tag.“ Denn vielen Beschäftigten gebe die anhaltende Corona-Krise gerade den letzten Schubser, das Berufsleben zu ändern, es völlig umzukrempeln, sogar neu zu beginnen. Statistiken gebe es dazu bisher nicht, die ersten erwarte die Agentur in etwa zwei Jahren.

„Die Erfahrungen bisher zeigen aber, dass Corona eine ganz große Rolle spielt“, sagt van der Coelen. Der Hintergrund dieser Menschen unterscheide sich von Region zu Region. Für Oberberg typisch sei, dass dort Beschäftigte ohne Abschluss oder Ausbildung bei vielen großen Unternehmen in Helfertätigkeiten gutes Geld verdienen konnten – bis die Pandemie ausbrach.

Kurzarbeit, Arbeitgeber und Krise motivieren zum Wechsel

„Die Krise aber führt zu einem Nachdenken, schließlich bleibt heute kaum jemand noch bis zur Rente in einem einzigen Job“, sagt die Beraterin. „Die Beschäftigten wissen, dass sie mehr können, wollen sich qualifizieren, ein höheres Einkommen erzielen, um etwa endlich eine Familie zu gründen, insgesamt zufriedener zu sein.“ Und oft sei die Entscheidung, sich Hilfe zu holen, eine sehr emotionale, „weil vieles inzwischen einfach unerträglich geworden ist“.

Das könnte Sie auch interessieren:

Ungewollte Freizeit durch Kurzarbeit, Druck durch den Arbeitgeber aufgrund der Pandemie und weitere, durch die Krise ausgelöste Belastungen seien Motivationen, diesen Wechsel anzugehen, führt Susanne van der Coelen aus. „Dafür braucht es aber auch Mut.“ Und sie weiß, wovon sie spricht: Van der Coelen hat ihren Beruf als Diplom-Ökonomin geschmissen, um für die Arbeitsagentur als Beraterin tätig zu werden.

Den Schritt von Marie Groos findet sie großartig, zumal sich die 41-Jährige traue, mit der Umschulung in eine Männerdomäne einzubrechen. Groos verrät: „Bei den früheren Jobs habe ich oft gedacht: ,Für viel Geld kann ich mich auch scheiße behandeln lassen’.“ Aber auch das weiß sie heute besser.

KStA abonnieren