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Interview

Gummersbacher Messerangriff
„Wer meint, das Gericht habe milde geurteilt, liegt völlig falsch“

4 min
Ulrich Bremer

Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer ist Pressesprecher der Kölner Staatsanwaltschaft. 

Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer spricht über den Messerangriff in Gummersbach und die Zunahme psychisch erkrankter Straftäter.

Im Oktober 2024 wurde ein damals 31 Jahre alter Gummersbacher dauerhaft in die Psychiatrie eingewiesen. Ein Jahr zuvor hatte er in der Gummersbacher Fußgängerzone einen Polizisten mit einem Messer verletzt. Unser Redakteur Andreas Arnold sprach mit dem Kölner Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer darüber, dass offenbar immer mehr Straftäter in Erscheinung treten, die psychisch krank sind.


Herr Bremer, der Fall des Messerangreifers aus der Gummersbacher Fußgängerzone sorgte im November 2023 bundesweit für Schlagzeilen. Am Ende wurde er nicht verurteilt, sondern wegen einer psychischen Erkrankung dauerhaft untergebracht. Es scheint so, als gebe es immer mehr Straftäter, die psychisch krank sind, oder täuscht der Eindruck?

Bundesweit hat sich die Zahl der Personen, die nach Paragraf 63 Strafgesetzbuch dauerhaft untergebracht worden sind, in den letzten 30 Jahren mindestens verdoppelt, eher verdreifacht. Es handelt sich um Täter, die zum Zeitpunkt der Tat – zum Beispiel aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung – schuldunfähig oder vermindert schuldfähig waren und für die Allgemeinheit gefährlich sind, weil von ihnen aufgrund ihres Zustandes auch künftig erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind.

Haben Sie eine Erklärung für diese Entwicklung?

Das ist eine Frage, die ein Kriminologe oder Psychologe sicher fundierter beantworten könnte. Ich kann mir aber vorstellen, dass das seit Jahrzehnten stetig zunehmende Sicherheitsdenken ebenso eine Rolle spielt wie möglicherweise auch eine Zunahme schwerer psychischer Erkrankungen. Letzteres ist jedenfalls mein Eindruck aus der Praxis. Während in Köln im Jahr 2014 zehn Unterbringungen nach Paragraf 63 Strafgesetzbuch von den Gerichten angeordnet worden sind, waren es im Jahr 2024 bereits 25.

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Kann es sein, dass die Justiz und die Gesellschaft überhaupt sensibler geworden sind für etwaige Erkrankungen?

Das glaube ich – was die Justiz betrifft – nicht. Bei Tötungs- und anderen schweren Delikten mit Gefährdungspotential ist es bereits jahrzehntelange Praxis, Beschuldigte durch einen psychiatrischen Sachverständigen auf ihre Schuldfähigkeit zu untersuchen, sofern es dafür konkrete Anhaltspunkte gibt. 

Im Gericht ist oft zu hören, dass mutmaßliche Täter eine lange und teils exzessive Drogenkarriere hinter sich haben. Sind Drogen nach ihren Erfahrungen bei psychischen Erkrankungen ein wesentlicher Aspekt?

Es ist keine Neuigkeit, dass Drogenmissbrauch (auch durch Cannabis) gerade bei jüngeren Beschuldigten schwere, nicht heilbare Psychosen auslösen kann. Drogen- und/oder Medikamentenmissbrauch spielen in Unterbringungsverfahren ebenso wie Alkoholmissbrauch häufig eine sehr große Rolle.

Nach Amokfahrten wie in Mannheim, München oder Magdeburg stellt sich die Frage, ob man psychisch auffällige Personen engmaschiger im Blick behalten muss. Geht das überhaupt?

In NRW hat die Polizei im Jahr 2022 ein Konzept zur „Früherkennung von und zum Umgang mit Personen mir Risikopotenzial“ ins Leben gerufen, mit dessen Hilfe risikoträchtige Personen leichter aufgespürt werden sollen. Polizei, Kommunen, Kliniken und Justiz arbeiten behördenübergreifend zusammen und beraten sich regelmäßig in gemeinsamen Fallkonferenzen – so auch in Köln. Das ist äußerst sinnvoll und hilfreich. Einen hundertprozentigen Schutz vor entsprechenden Taten wird es aber dennoch nicht geben können.

Nicht nur im Fall des Gummersbacher Messerangreifers stand die dauerhafte Unterbringung am Ende des Verfahrens. Was bedeutet dieser Beschluss für die Betroffenen?

Die gerichtliche Anordnung der dauerhaften Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist sicherlich keine therapeutische Wohltat, sondern für den Betroffenen ein äußerst gravierender Eingriff in Freiheitsrechte. Aus diesem Grund ist das Gericht gesetzlich verpflichtet, unter Einholung von Sachverständigengutachten in vorgegebenen zeitlichen Abständen zu prüfen, ob die Voraussetzungen für eine dauerhafte Unterbringung weiterhin vorliegen. Das Bundesverfassungsgericht verlangt insbesondere bei Langzeituntergebrachten eine noch stärkere Beachtung des sogenannten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes durch die Gerichte als früher. Auf der anderen Seite erhalten die betroffenen Personen in der Unterbringung die notwendige medizinische und therapeutische Behandlung verbunden mit der Chance, dass die Unterbringung in geeigneten Fällen zur Bewährung ausgesetzt oder ganz aufgehoben werden kann.

In Juristenkreisen gilt die dauerhafte Unterbringung als das „schärfste Schwert“, warum?

Die vom Gericht angeordnete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist im Gegensatz zu einer zeitlich begrenzten Freiheitsstrafe unbefristet. Der Betroffene kann daher grundsätzlich auch bis zu seinem Lebensende untergebracht bleiben, während er als schuldfähiger Verurteilter nach Verbüßung einer zeitlich begrenzten Freiheitsstrafe längst entlassen worden wäre. Deshalb muss diese schwerwiegende Entscheidung stets nach sehr sorgfältiger Abwägung aller verfahrensrelevanten Umstände getroffen werden. Wer also meint, das Gericht habe milde geurteilt, weil der Täter nicht in Strafhaft gekommen, sondern stattdessen „nur“ in der Psychiatrie untergebracht worden ist, der liegt völlig falsch.


Der Paragraf 63 Strafgesetzbuch

Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (Paragraf 20 Strafgesetzbuch ) oder der verminderten Schuldfähigkeit (Paragraf 21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird, zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist.