Kinder in der Corona-Krise„Verschwörungstheorien höre ich selten von Jugendlichen“

Lesezeit 5 Minuten
Interview_Melchers_Adelmann

Raus aus dem Lockdown! Vor den Folgen der Krise für Körper und Seele warnen Dr. Peter Melchers (l.) und Dr. Roland Adelmann.

  • Monatelang waren Kinder und Jugendliche gezwungen zu Hause zu bleiben, weil Kindergärten und Schulen in der Corona-Krise geschlossen waren.
  • Was bedeutet das für die Gesundheit der Mädchen und Jungen - körperlich wie psychisch.
  • Die Ärzte Peter Melchers und Roland Adelmann haben eine Vielzahl von Folgen festgestellt.

Oberbergischer Kreis – Die Corona-Krise und ihre Auswirkungen haben in den vergangenen Monaten alles bestimmt – auch im Gesundheitssystem in Oberberg. Wie lang ist der Schatten, den das Virus auf die Arbeit von Ärzten und Selbsthilfegruppen wirft wirklich? Damit beschäftigen wir uns in unserer Reihe von Sommergesprächen. Zum Auftakt berich Dr. Roland Adelmann, Chefarzt der Gummersbacher Kinderklinik, und Dr. Peter Melchers, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Marienheide, aus ihrer Arbeit.

Wie hat das Coronavirus und die Gefahr seiner Ausbreitung die Arbeit der Gummersbacher Kinderklinik verändert, Herr Dr. Adelmann?

Adelmann: Die Veränderung waren sehr spürbar. Wir hatten deutlich weniger kleine Patienten und wenn, dann kamen sie sehr oft viel zu spät. Das heißt, dass sie selbst bei normalen Infektionskrankheiten schon stark ausgetrocknet waren. Wären sie früher zu uns gekommen, hätte das gar nicht passieren müssen.

Gibt es denn unter den Krankheiten welche, die jetzt in der Corona-Krise häufiger aufgetreten sind?

Adelmann: Ganz klar sind das die Folgen von Zeckenbissen. Borreliose also, bis hin zur Gehirnhautentzündung. Die Erklärung ist einfach – und eigentlich gar nicht so schlecht: Die Kinder waren einfach viel mehr draußen. Das ist eben die negative Seite davon. Das zeigt sich auch an der Zunahme von Unfällen auf der Rutsche oder mit dem Fahrrad.

Das könnte Sie auch interessieren:

Nicht nur die körperliche Gesundheit von Kindern ist in der Corona-Krise ein großes Thema, Herr Dr. Melchers. Was macht diese Phase mit der Kinderseele?

Melchers: Ich kann Ihnen zu der erzeugten Hysterisierung in dieser Krise ein Beispiel nennen: Ich habe hier den Aufnahmebogen eines 14-jährigen Mädchens, das jetzt eine Zwangsstörung hat. Da geht es nicht darum, dass sich jemand bei verstärkten Hygieneanforderungen häufiger die Hände wäscht. Da ist eine echte Zwangsstörung entstanden, ein Waschzwang.

Das heißt, Sie sind der Meinung, dass die Lockerungen für die seelische Gesundheit dringend erforderlich waren? Auch wenn die Kinder tatsächlich nur zwei Wochen vor den Ferien zur Schule gehen konnten?

Melchers: Auf jeden Fall waren sie das. Überlegen Sie doch mal, wie lange die Kinder jetzt weitgehend zu Hause waren – im Prinzip seit Anfang März. Bis zum Ende der Ferien wäre das dann durchgehend fast ein halbes Jahr gewesen. Wir Erwachsene können das vielleicht noch verarbeiten. Aber ein halbes Jahr im Leben eines Sieben-, Acht- oder Zehnjährigen – das ist eine Ewigkeit.

Adelmann: Das gilt natürlich auch für die motorische Entwicklung der Kinder. Malen in der Schule oder in der Kita ist zum Beispiel besonders wichtig für die Feinmotorik. Es gibt erste Erkenntnisse, dass Kinder, die in den Kleingruppen betreut wurden, wieder richtig aufgeblüht sind.

Melchers: Das Gefährliche daran ist, dass der Regelbetrieb zur Unnormalität wird. Wie hätte das nach den Ferien weitergehen sollen? Im Prinzip bräuchten selbst Sieben- oder Achtjährige doch dann erstmal eine Eingewöhnungszeit, wie wir sie sonst nur von Kita-Kindern kennen.

Höre ich da richtig heraus, dass Sie einer weiteren Digitalisierung des Unterrichts, wie sie jetzt beim Home Schooling als Erfolg gefeiert wurde, selbst eher skeptisch gegenüberstehen?

Melchers: Da hören Sie ganz richtig. Das Problem ist doch, dass die ganze Digitalisierung von Unterricht durch die Krise gar nicht mehr kritisch diskutiert werden konnte. Das sind die Einflüsse, die noch viel schneller in eine viel größere digitale Abhängigkeit führen. Kinder sind soziale Wesen, aber nicht, wenn sie die ganze Zeit vor dem Bildschirm verbringen.

Wie gehen die Kinder denn mit der Krise um? Haben sie konkret Angst vor Corona?

Adelmann: Ich glaube, dass es eher die Eltern sind, die verunsichert sind. Verschwörungstheorien höre ich zum Beispiel nur ganz selten von Jugendlichen. Im Gegenteil: Die wissen sehr genau, was sie tun dürfen und was nicht. Da kann ich wirklich ein großes Lob aussprechen.

Was glauben Sie denn, was von der Krise bleibt? Oder wird bald alles wie vorher?

Adelmann: Ich denke schon, dass die Maske nicht so schnell wieder aus unserem Alltag verschwindet. Sie wird bleiben, viel häufiger als wir es bisher gewohnt waren. Ich weiß noch, wie ich früher auf Reisen durch China über viel übertriebene Hygiene geschmunzelt habe. Dahinter kommen wir aber nicht mehr zurück, glaube ich. Und auch der Handschlag, den ich bei der persönlichen Kontaktaufnahme sehr schätze, wird es lange Zeit sehr schwer haben.

Melchers: Es ist aber nicht das Händeschütteln alleine, auf das wir da gerade verzichten. Ich meine, wir werden schon sehr bald sehr viel mutiger werden müssen. Und das ist keine wirtschaftliche, sondern eine ethische Frage. In Großbritannien zum Beispiel – über dessen katastrophales Gesundheitssystem ich mir ein Urteil erlauben darf, weil ich selbst da gearbeitet habe – durften Angehörige selbst Sterbenden nicht mehr nahe kommen. Das ist ein gravierendes ethisches Problem, aber solche haben wir auch, zum Beispiel in Bezug auf die Betreuung alter und geistig behinderter Menschen, schwerstkranker Angehöriger im Krankenhaus.

Werden wir trotzdem weiter Abstand halten und Maske tragen?

Melchers: Das ist ja automatisch nicht nur eine räumliche Frage, sondern auch eine soziale – vor allem wenn es um das Zusammenspiel der Generationen geht: Wie lange wollen wir Großeltern den Kontakt zu ihren Enkelkindern wirklich verwehren? Das kann zu Depressionen führen. Was die Maske angeht: Wir in der Psychiatrie müssen jetzt schon darauf verzichten. Ich kann einem Patienten, der eine Psychose hat und sich ohnehin verfolgt fühlt, nicht mit so einer Maske gegenübertreten.

Adelmann: Ähnlich ist es bei uns mit dem Abstand. Natürlich zuckt man noch, aber ich kann nicht anders: Im Zweifel muss ich als Arzt die weinenden Eltern eines schwerkranken Kindes auch mal einfach in den Arm nehmen können.

KStA abonnieren