Oberbergs Notfallseelsorgerin im Interview„Schweigen auszuhalten, ist nicht einfach“

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Sigrid Marx leitet die Ökumenische Notfallseelsorge Oberberg.

Sigrid Marx leitet die Ökumenische Notfallseelsorge Oberberg.

Oberberg – Das 20-jährige Bestehen der Notfallseelsorge im Oberbergischen Kreis wird am Samstag in Wiehl-Marienhagen gefeiert. Beatrix Schmittgen hat mit der Koordinatorin Sigrid Marx (56) über ihre Arbeit gesprochen.

Sie haben im Sommer 2021 Ihre Stelle als Koordinatorin der Ökumenischen Notfallseelsorge Oberberg angetreten. Zuvor haben Sie sich bereits ehrenamtlich als Seelsorge-Fachberaterin bei der Feuerwehr engagiert. Welcher Einsatz ist Ihnen aus dieser Zeit besonders im Gedächtnis geblieben?

Marx: Das war ein Einsatz, zu dem ich außerplanmäßig von der Feuerwehr gerufen wurde. Dabei ging es um den Suizid eines jungen Mannes, und vor Ort musste ich feststellen, dass es sich um den Bruder einer Freundin handelte. Wenn persönliche Gefühle im Spiel sind, lässt ein Seelsorger normalerweise die Finger von solch einem Einsatz. Aber dank meiner früheren Ausbildung zur Fachschwester für Intensivpflege und Anästhesie habe ich gelernt, für mich selber Grenzen zu ziehen und eine entsprechende Distanz zu wahren. Aber solch ein Einsatz bleibt dann im Gedächtnis hängen.

Notfallseelsorge

Vor 20 Jahren wurde die Notfallseelsorge Oberberg gegründet. Schon damals arbeiteten die evangelische und die katholische Kirche mit jeweils einem Koordinator Hand in Hand. Vor knapp einem Jahr, die beiden bisherigen Koordinatoren waren in den Ruhestand gegangen, wurde im Zuge einer Strukturreform eine halbe ökumenische Stelle geschaffen, die durch den Evangelischen Kirchenkreis An der Agger und das Katholische Kreisdekanat Oberberg finanziert wird. Heute ist die Notfallseelsorge ein multikonfessionelles und -religiöses Team von Ehrenamtlichen. (bs)

Sie sind 2019 ins Oberbergische gezogen, um als Diakonin in der evangelischen Kirchengemeinde Hülsenbusch-Kotthausen zu arbeiten. Haben Sie sich gut eingelebt?

Mich im Oberbergischen heimisch zu fühlen, war nicht schwer für mich. Meine Mutter kommt aus dem Siegerland, ein Cousin lebt in Gummersbach. Oberberg war daher nicht fremd für mich. In meine Stelle als Koordinatorin habe ich mich mittlerweile eingelebt, auch wenn der Start etwas holprig war. Ich wurde sehr gut von meinem Vorgänger Pfarrer Gisbert van Spankeren eingearbeitet, aber zwei Wochen nach meinem ersten Arbeitstag kam die Hochwasserkatastrophe, und unser Team war sowohl in Erftstadt als auch in Kall in der Eifel im Einsatz.

Per Bus ging es morgens hin und abends wieder zurück. Ich kannte zu dem Zeitpunkt noch nicht alle Teammitglieder, dennoch musste die Zusammenarbeit funktionieren. Ich bin sehr stolz, dass das auf Anhieb geklappt hat. Es war ein stressiger, aber durchaus sehr erfolgreicher Einstieg in meine Stelle.

Warum haben Sie sich entschieden, Notfallseelsorgerin bzw. Seelsorge-Fachberaterin zu werden?

Ich glaube, weil ich mich dazu auch ein Stück berufen fühle. Mir wurde schon früher gesagt, ich könne gut zuhören. Damit kann ich den Menschen in gewissen Situationen helfen. Ich habe in Remscheid vor zwölf Jahren die Diakonenausbildung absolviert. Darin inbegriffen ist auch eine Seelsorgeausbildung. Um als Notfallseelsorgerin arbeiten zu können, bedarf es einer eigenen zusätzlichen Ausbildung.

Was braucht es, um ein Notfallseelsorger zu werden? Was sagen Sie Neulingen?

Voraussetzung ist zunächst einmal, dass das 27. Lebensjahr vollendet wurde, dann kann von einer gewissen Reife und Lebenserfahrung ausgegangen werden. Zudem muss eine Mitgliedschaft in einer Kirche der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen bestehen. Wichtig ist, dass die Bewerber physisch und psychisch stabil sind. Ihnen muss bewusst sein, dass sie zu einem Einsatz gerufen werden, weil gerade eine Person verstorben ist, sei es durch einen Unfall, durch einen Suizid, einen plötzlichen Kindstod oder ein plötzlicher Tod im häuslichen Bereich.

Es kann sein, dass die zu betreuende Person, in den meisten Fällen ein Verwandter, sich von dem Toten verabschieden möchte und wir den Angehörigen dabei begleiten. Das ist unsere Aufgabe und dazu müssen wir auch bereit sein. Ein Notfallseelsorger muss sich auf verschiedene Situationen einstellen können und empathisch sein. Wichtig ist, dennoch eine gewisse Distanz zu wahren, um das Erlebte nicht mit nach Hause zu nehmen. Auf Distanz Nähe zu zeigen, das lernen zukünftige Notfallseelsorger in unseren Lehrgängen.

Wann wird ein Notfallseelsorger hinzugezogen? Sind es auch mal die Einsatzkräfte, die einen Notfallseelsorger benötigen?

Wir werden durch die Leitstelle alarmiert, wenn eine Person verstorben ist. Wenn bei einem tödlichen Unfall oder Suizid weitere Zeugen vor Ort sind oder bereits die Familie dort eingetroffen ist, fahren wir direkt zur Unfallstelle.

Wir werden auch hinzugezogen, wenn die Angehörigen Zeuge einer Reanimation geworden sind, beispielsweise bei einem Herzinfarkt oder Schlaganfall und der Patient vor Ort noch verstirbt. Wir begleiten aber auch die Polizeibeamten, die eine Todesnachricht überbringen müssen, um uns dann um die Verwandten zu kümmern. Zu unserem Team gehören auch vier Notfallbegleiter muslimischen Glaubens. Für die Einsatzkräfte selbst gibt es eigene, interne Seelsorger.

Wie verläuft eine Alarmierung?

Jeder Notfallseelsorger hat eine App auf dem Handy. Wird Unterstützung benötigt, alarmiert die Leitstelle nacheinander diejenigen Notfallseelsorger, die für das betroffene Gebiet zur Verfügung stehen. In der Regel sind das rund zehn Teammitglieder. Wird der Einsatz durch den ersten Kontakt abgelehnt oder ist er nicht erreichbar, wird der zweite auf der Liste informiert, solange bis einer den Einsatz übernimmt. Steht gerade keiner von der Kontaktliste zur Verfügung, landet der Einsatz bei mir, ich alarmiere dann telefonisch nach oder fahre den Einsatz selber.

Wie verläuft so ein Einsatz?

Unsere Aufgabe ist es, die Person aus der Passivität wieder in die Aktivität zu bringen. Das heißt, wenn die Person aufgrund der Nachricht in eine Art Schockzustand verfällt, ist es an uns, diese Starre wieder zu lösen, indem wir sie animieren, aktiv zu handeln. Das fängt beim Kaffeekochen an. Es gilt Telefonate zu führen, um Angehörige oder Freunde zu informieren. Aber die Person muss es selbst machen.

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Wir signalisieren der Person: „Ich habe Zeit und bin für Sie da.“ Wir hören zu, wenn Redebedarf besteht. Wir nennen es aktives Zuhören, denn wir müssen zwischen den Zeilen lesen, um zu verstehen, was der Betroffene tatsächlich braucht. Es kann aber auch passieren, dass man einfach nur nebeneinander sitzt und schweigt. Schweigen auszuhalten, ist nicht einfach, aber auch das gehört dazu.

Gibt es nach Einsätzen für die Teammitglieder eine Art Nachbesprechung?

Es ist wichtig, diese Gespräche zu führen. Als Koordinatorin ist es meine Aufgabe, dass die Teammitglieder keinen Schaden nehmen. Ein plötzlicher Kindstod oder ein Suizid sind immer Einsätze, die an die Nieren gehen. Aus diesem Grund finden im Normalfall regelmäßig Supervisionstreffen statt. Es sind rund 40 Ehrenamtliche für die Ökumenische Notfallseelsorge tätig. Während der Corona-Pandemie waren die großen Treffen nicht möglich, aber ich halte immer Kontakt mit allen Teammitgliedern und frage nach, ob es nach einem Einsatz Redebedarf gibt, ob in einer kleinen Gruppe oder einzeln. Ich bin rund um die Uhr erreichbar, und das wissen die Ehrenamtlichen aus unserem Team auch.

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