Historischer Rückblick auf die WandertageAls Gesellen auf Wanderschaft

Lesezeit 3 Minuten
Eine Abkühlung verschafften sich die Gesellen Hermann Hermes, Heinz Görgens und der später dazugekommene Helmut Prinz (v.l.) im Freibad von Burghausen in Oberbayern.

Eine Abkühlung verschafften sich die Gesellen Hermann Hermes, Heinz Görgens und der später dazugekommene Helmut Prinz (v.l.) im Freibad von Burghausen in Oberbayern.

  • Auf dem Chemiehügel lebte in den 50er-Jahren die Tradition der Walz wieder auf.
  • Zwei Gesellen von früher blicken auf ihre Wanderzeit in den 1950er-Jahren zurück...
  • ... und haben dabei einige historische Fotos im Schlepptau.

Hürth – Für Handwerksgesellen gehörte die Walz vom Spätmittelalter bis zum Beginn der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Pflichtprogramm – jedenfalls, wenn sie Meister werden wollten. Auf dem Knapsacker Chemiehügel nahm man die Tradition Mitte der 1950er-Jahre kurzzeitig wieder auf: Der Werksleiter der Knapsack-Griesheim AG schickte seine besten Gesellen nach der Lehre für zwei Jahre auf Wanderschaft. Hermann Hermes und Heinz Görgens gehörten zu den ersten Wandergesellen aus Knapsack; sie erinnern sich gern an eine lehrreiche Zeit.

Hermes und Görgens, beide heute 82 Jahre alt, absolvierten von 1952 bis 1955 ihre Schlosserlehre in der Lehrlingswerkstatt. Sie gehörten zu den drei von insgesamt 16 neuen Gesellen, die nach Abschluss ihrer Ausbildung für die Walz ausgesucht worden waren. „Das war damals ein Test. Wir hätten auch nein sagen können“, berichtet Hermes. Doch das fiel den beiden Freunden nicht ein.

Mit dem Fahrrad machten sich Hermann Hermes, Heinz Görgens und Josef Oepen (v.l.) 1955 auf den Weg zunächst nach Oberbayern.

Mit dem Fahrrad machten sich Hermann Hermes, Heinz Görgens und Josef Oepen (v.l.) 1955 auf den Weg zunächst nach Oberbayern.

Damals, wie schon im Mittelalter, wurden die Gesellen aus demselben Grund auf Wanderschaft geschickt. „Es ging darum, einen weiteren Blick zu bekommen“, so Hermes. Außerdem sollten die Schlosser in Gastbetrieben Erfahrungen sammeln, wie anderswo gearbeitet wird.

Die zweijährige Wanderschaft führte die beiden frisch gebackenen Gesellen für jeweils acht Monate sowohl in den tiefen Süden als auch in den hohen Norden, dazwischen ins Sauerland. Mit dem Fahrrad machten sich die Gesellen am Maifeiertag 1955 zunächst auf die sechstägige Reise nach Burghausen in Oberbayern. Dort arbeiteten die Schlosser bei der Wacker Chemie in der Karbidwerkstatt, im Austausch für drei Gesellen, die nach Knapsack kamen. Untergebracht waren die Wandergesellen bei Privatleuten; für eine Mark pro Nacht, inklusive Frühstück und Familienanschluss. „Wir haben damals eine Mark und vier Pfennig pro Stunde verdient“, sagt Görgens.

„Ich hab kein Wort verstanden“

Die bayerischen Sitten und vor allem die Mundart waren für die Wandergesellen eine neue Erfahrung. „Der Altgeselle hat uns alles genau erklärt. Ich hab kein Wort verstanden“, blickt Görgens schmunzelnd zurück. Und mittags habe es zu Brot und Speck immer auch ein paar Flaschen Leichtbier gegeben. „Im Sommer hat dazu jeden Mittag die Blasmusik vor der Kantine gespielt“, so Görgens. Sonntags gehörten Kirchgang und Frühschoppen zum Programm.

In Erinnerungen schwelgten Heinz Görgens und Hermann Hermes, die in der Pensionärsvereinigung des Chemieparks aktiv sind.

In Erinnerungen schwelgten Heinz Görgens und Hermann Hermes, die in der Pensionärsvereinigung des Chemieparks aktiv sind.

Zweite Station war Menden im Sauerland, wo die Gesellen aus Hürth bei der Firma Schmöle mit der Verarbeitung von Kupferrohren und -drähten beschäftigt waren und unter anderem eine Rohrziehbank konstruierten. „Untergebracht waren wir im »Bullenkloster«, einem evangelischen Jungmännerheim“, sagt Hermann Hermes. „Da waren wir ganz auf uns allein gestellt.“

Richtig nobel residierten die Gesellen dann auf ihrer letzten Station bei der Norddeutschen Affinerie, einer Kupferhütte sowie Gold- und Silberscheideanstalt in Hamburg. „Wir waren in einer Villa über der Werkskantine untergebracht“, erinnert sich Hermes, „das war erste Adresse direkt an der Binnenalster.“ Auch abseits der Arbeit gab es für die jungen Gesellen in Hamburg viel zu erleben, vom Fischmarkt bis zur sündigen Meile in St. Pauli. In Hamburg lernte Hermes auch seine Herzensdame kennen, die er 1958 heiratete und ins Rheinland holte.

Rückkehr im Frühling '57

Ende April 1957 kehrten die Gesellen dann nach Hürth zurück – mit jeder Menge Erfahrungen im Gepäck. Nach gerade einmal 14 Tagen Urlaub traten Görgens und Hermes ihre neuen Stellen in Knapsack an, machten später beide ihren Meister und gingen 1994, nach 42 Jahren bei der Knapsack-Griesheim AG und dem Nachfolger Hoechst AG in den Ruhestand.

Das könnte Sie auch interessieren:

Die Tradition der Walz hingegen schlief schnell wieder ein in Knapsack. Nach sechs Jahren war Schluss. Heinz Görgens bedauert das. Er ist überzeugt, dass die Wanderjahre zur Persönlichkeitsbildung beigetragen haben: „Das Lernen fängt nach der Lehre an. Wir haben viel gelernt, vor allem Selbstständigkeit.“

KStA abonnieren