Mord im DrückermilieuPostkartenverkäufer erstach 1990 Seniorin in Troisdorf

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Drücker versuchen, an der Haustür Waren zu verkaufen (Symbolfoto). Im Fall des Angeklagten waren es Postkarten.

  • Der Schwurgerichtssaal des Bonner Landgerichts, das 1850 errichtet worden ist, ist saniert worden; er steht unter Denkmalschutz.
  • Aus diesem Anlass blickt Dieter Brockschnieder auf spektakuläre Verfahren zurück, die in dem Saal stattgefunden haben. Heute: der Strafprozess um einen Mord im Drückermilieu.

Bonn/Troisdorf – Die Regierung der DDR hat gern darstellen lassen, der Westen sei ein Hort der Kriminalität, während es im „Arbeiter- und Bauernstaat“ fast gar keine Verbrechen gebe. Mal ein „Rowdytum“ genanntes kleines Delikt, mal ein Einbruch, mal Jugendkriminalität, doch Raub, Diebstahl oder gar Mord – „bei uns nicht“, lautete im Osten die Devise.

Ein Mordprozess vor dem Schwurgericht des Landgerichts Bonn im Frühjahr 1991 zeichnete, nicht einmal ein halbes Jahr nach der Wiedervereinigung, ein anderes Bild. Auf der Anklagebank im Saal 113 saß der damals 26 Jahre alte Andreas V. Er wurde in der DDR zum Kriminellen und in der BRD zum Mörder.

Schwere Kindheit

V. wurde 1964 im Kreis Hohenstein-Ernstthal geboren, einem Landstrich in Sachsen, der stolz darauf ist, dass dort am 25. Februar 1842 ein gewisser Karl May das Licht der Welt erblickt hatte. Der Angeklagte stammte, wie der Schriftsteller May, aus armen Verhältnissen. Die Ehe seiner Eltern zerbrach an der Alkoholsucht des Vaters, da war der Sohn gerade zwei.

Seine Großmutter nahm ihn auf, eine für ihn glückliche Zeit, wie er sich später erinnerte, weil ihn die Oma verwöhnte. Kurz vor der Einschulung musste Andreas jedoch zurück zu seiner Mutter, die inzwischen einen neuen Partner hatte. Mit im Haushalt der Patchworkfamilie lebten drei weitere Kinder, auf die er, der verwöhnte „Kleine“, als Ältester nun Rücksicht nehmen sollte.

Mit Neuroleptika ruhiggestellt

Er aber wollte sich nicht anpassen, verweigerte auf der Oberschule die Teilnahme an Veranstaltungen, die, so seine spätere Einlassung vor dem Bonner Gericht, nur dazu dienen sollten, ihm die Werte der sozialistischen Gesellschaftsordnung einzutrimmen. Mit dem „Kollektiv“ wollte er nichts zu tun haben.

V. schwänzte die Schule, streunte herum, seine Leistungen verschlechterten sich, und als die Mutter sich mit strengen Erziehungsmethoden nicht durchsetzte, griff die staatliche Jugendhilfe im Dezember 1973 ein – und zwar radikal.

Sie ließ den Jungen, gerade neun Jahre alt, für Monate zur Untersuchung seines Geisteszustands in eine Nervenheilanstalt in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) einweisen, wo die Ärzte ihn mit einem Neuroleptikum ruhigstellten.

Immer wieder andere Heime

Nach der Entlassung aus der Klinik steckte er beim Versuch, eine Zigarette zu rauchen, eine Lagerhalle in Brand. Die Folge: raus aus der Familie und ab ins Kinderheim, was noch mehr Gängelung bedeutete.

Wiederholt brach der Jugendliche aus, lebte von Einbrüchen und Raubüberfällen, wurde geschnappt, kam in eine Einzelzelle. Als dies keine Änderung brachte, wurde er 1975, dem Jahr, in dem Nina Hagen die Ostdeutschen mit dem Schlager „Du hast den Farbfilm vergessen“ entzückte, in ein Heim für schwer Erziehbare überwiesen.

Aufenthalte in anderen Anstalten folgten. In einer zeigte sich bei dem damals 13-Jährigen nach Erkenntnissen des Schwurgerichts schon die „Gefühlskälte“ des späteren Mörders: „Mit einer für ein Kind bemerkenswerten Rücksichtslosigkeit“, so die Bonner Richter, schlug er im Keller des Heims einen Mitzögling, den er für einen „Verräter“ hielt, mit einer Campingaxt auf den Kopf, um ihn, so seine vom Gericht wiedergegebene Aussage, zu töten, dann zu zerstückeln und „durch einen Fleischwolf zu drehen“. Der andere Junge überlebte den Anschlag leicht verletzt, Andreas V. wurde milde mit einem Tag Arrest bestraft.

Haft nach Fluchtversuchen

1979, in diesem Jahr flüchten zwei Familien mit einem selbstgebastelten Heißluftballon aus der DDR in die Bundesrepublik, verließ V. die Schule und begann eine Schlosserlehre. Wieder wollte er sich nicht anpassen, beging Diebstähle und versuchte mehrmals, über die Tschechoslowakei in den Westen zu flüchten. Grenzer fingen ihn jedes Mal ab, lieferten ihn an die DDR aus, wo er wegen Republikflucht und Diebstahls zu fast drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

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Das frühere Stasi-Gefängnis Bautzen II ist seit dem Jahr 1993  eine Gedenkstätte. 

1985 kam er frei, ging zur Reichsbahn, verkrachte sich mit Vorgesetzten und steckte schließlich aus Wut über sie die Lagerhalle eines Güterbahnhofs in Brand. Der Schaden: 1,7 Millionen Mark.

Vom Stasi-Gefängnis zur Gedenkstätte

Die Haftanstalt Bautzen II war ein Gefängnis, das von 1906 bis 1992 in der sächsischen Stadt Bautzen existierte. Von 1956 bis zum Ende der DDR wurde es als Sonderhaftanstalt vom Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) geführt, das einen Hochsicherheitstrakt für 200 politische Häftlinge einrichtete.

1989 wurden die politischen Gefangenen freigelassen, seit 1993 ist Bautzen II eine Gedenkstätte. Der Schriftsteller Walter Kempowski (1929-2007) hat acht Jahre in Bautzen gesessen und seine Erlebnisse in den Büchern „Im Block. Ein Haftbericht“ und „Ein Kapitel für sich“ verarbeitet. (dbr)

Die Quittung: elf Jahre Haft, die er im Gefängnis Bautzen II verbringen sollte, einer als „Stasi-Knast“ berüchtigten Anstalt, in der Gefangene misshandelt wurden. Mielkes Leute versuchten vergeblich, ihn im Knast als Agenten anzuwerben.

Wechsel in den Westen

Fünf Jahre verbrachte Andreas V. in Bautzen, dann kam die Wende, und der 24-Jährige wurde im Mai 1990, vierfach vorbestraft, entlassen. Er fuhr in den Westen, um dort so schnell wie möglich viel Geld zu verdienen – und landete Ende Juni 1990 am Hauptbahnhof Frankfurt/Main in den Fängen einer Drückerkolonne. Die versprach ihm das Blaue vom Himmel: Wohlstand, gutes Leben, Reisen, schicke Hotels.

Die Wahrheit jedoch sah anders aus: Die achtköpfige Truppe übernachtete in einem billigen Hotel im nördlichen Rheinland-Pfalz. Es gehörte dem Chef eines Postkartenverlags, der selbst in einer Villa residierte. Seine Produkte sollte die Gruppe an Haustüren verkaufen.

Alltag als Postkartendrücker

Der Tag der „freien Handelsvertreter“ war straff geregelt: aufstehen um 6.45 Uhr, Frühstück um 7.30 Uhr. Wer tags zuvor die wenigsten Karten verscherbelt hatte, musste vor der ersten Tasse Kaffee den Firmenbus waschen. Gegen 8 Uhr Aufbruch per Bus in die umliegenden Städte, wo Kolonnenführer B. die Werber in verschiedenen Bezirken absetzte.

Jeder bekam sieben bis acht Päckchen mit je zehn Postkarten, die für 19,80 Mark losgeschlagen werden sollten. Vom Erlös behielt der Verkäufer 4,50 Mark, der Kolonnenführer bekam eine Mark, 20 Pfennig gingen an das Behindertenwerk, das die Karten verpackt hatte, den Rest steckte der Verlagsleiter ein. Verkaufte einer 20 Päckchen oder mehr, gab es Prämien.

Nachsitzen zu „Schulungszwecken“

Die Drücker mussten für Unterkunft und Verpflegung 30 bis 35 Mark pro Tag bezahlen sowie jede Woche 40 Mark Spritgeld. Lief das Geschäft gut, ging es abends in die Disco, wenn nicht, hieß es, im Hotel nachsitzen zu „Schulungszwecken“. Schlechte Verkäufer wurden heruntergeputzt und gezwungen, immer wieder sogenannte Verkaufsargumente aufzuschreiben. Auch körperliche Misshandlungen soll es gegeben haben.

Der Ex-DDR-Bürger V. hatte anfangs Glück und verkaufte bis zu zehn Päckchen täglich – bis zum 13. Juli 1990. Da war die Drückerkolonne in Troisdorf unterwegs, Andreas V. klapperte mit einem Kollegen die Straßen rund um die Siebengebirgsallee ab, hatte aber einen schlechten Tag.

Niemand wollte seine angeblich von Behinderten gemalten Karten haben. Eine Frau schlug ihm sogar die Tür vor der Nase zu und klemmte ihm dabei einen Finger ein. Als V. Kolonnenführer B. gegen 11.30 Uhr über den Misserfolg berichtete, beschimpfte der ihn als „Kameradenschwein“ und drohte für den Abend „Nachsitzen“ an.

Das Verbrechen

Jetzt war der 25-Jährige „geladen“, er wollte nicht noch einmal „zusammengeschissen“ werden. In aggressiver Stimmung klingelte er kurz vor 12 Uhr an der Wohnungstür einer 79-Jährigen. Die nur 1,52 Meter große, zierliche Frau öffnete dem Fremden, der seine Karten anbot. Sie lehnte aber ab, so dass er sie, wie vom Kolonnenführer gelernt, in den Flur drängte, um den Kaufdruck zu erhöhen.

Die verängstigte Witwe teilte ihm mit, ihr Mann sei vor drei Wochen gestorben. Sie habe das möglicherweise erzählt, so das Gericht, um ihn zum Verlassen der Wohnung zu bewegen. Doch der Angeklagte wusste jetzt, dass er allein mit der alten Frau war, und fasste den Entschluss zur grausamen Tat: Im Wohnzimmer schlug er der Witwe mit einem gezielten Hieb gegen die Brust.

Staatsanwalt Jörg Pietrusky sprach in der Anklageschrift von einem „Karateschlag“. Die Frau stürzte, der Angeklagte forderte sie auf, das Geldversteck zu verraten. Als sie nicht reagierte, würgte er sie und schlug erneut auf sie ein. Weil er trotz seiner Brutalität von der Witwe nichts erfuhr, habe er beschlossen, sie töten, so das Schwurgericht. V. holte demnach zwei Messer aus der Küche und erstach damit sein Opfer.

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Danach durchsuchte er die Wohnung, warf den Inhalt von Schubläden und Schränken auf den Boden, fand drei leere Geldbörsen sowie einen Briefumschlag mit 130 Mark; 1300 Mark, die in einem Schlafzimmerschrank deponiert waren, übersah er. Gegen 12.25 Uhr verließ der Mörder die Wohnung. Das Geld übergab er kurz darauf dem Kolonnenführer und erzählte ihm, er habe es beim Postkartenverkauf eingenommen.

Die Tote wurde am Nachmittag von ihrer Tochter entdeckt. Hinweise aus der Bevölkerung führten die Kripo rasch zu der Drückerkolonne, Andreas V. wurde festgenommen und legte in der Vernehmung vor der Mordkommission ein Geständnis ab.

Das Urteil

Das Schwurgericht unter Vorsitz von Richter Martin Lickfett verurteilte ihn nach fünf Verhandlungstagen am 12. März 1991 wegen Mordes in Tateinheit mit schwerem Raub zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil wurde vom Bundesgerichtshof im Sommer 1991 als unbegründet verworfen.

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