Holocaust-ÜberlebendeHennefer Schüler erarbeiten Skulptur zu Tamar Dreifuss' Leben

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Tamar Dreifuss, hier mit Schulleiterin Diane Wiebecke (r.) und Lehrerin Christiane Liedtke, kam zur Präsentation.

Hennef – Aus dem Innern der Hundehütte fällt der Blick auf ein schweres Paar Stiefel. Es ist einer der Momente, in denen das Leben von Tamar Dreifuss auf Messers Schneide steht. Und es ist Teil einer Installation.

Eine elfköpfige Projektgruppe der Gesamtschule Meiersheide hat eine begehbare Skulptur nebst Audio-Kopfhörer-Führung erschaffen. Das Projekt mit dem Titel „Tamar Dreifuss – Erklären-Erzählen-Erleben“ wurde im Beisein der jüdischen Shoa-Überlebenden präsentiert.

Das kleine, leblose Ensemble aus fensterlosen Häusern wirkt beklemmend. Es ist dem Gemälde „The Ghetto“ von Samuel Bak, einem Cousin von Dreifuss, nachempfunden. „Wir haben versucht, die hermetische Abgeschlossenheit zu übertragen“, sagte Barbara Dreymann, Lehrerin aus der Projektgruppe, in der auch Schüler mitarbeiteten.

Mutter und Tochter versteckten sich in Hundehütte

Max Giesen zum Beispiel. Die Stimme des Achtklässlers ist im Audio-Guide zu hören: „Wo sind wir hier?“ „Wir sind in unserer Wohnung in Wilna. Hier habe ich als kleines Kind mit meinen Eltern gewohnt“, antwortet Tamar Dreifuss. Im ersten Raum der Installation hängen Porträtfotos an tapezierten Wänden. Da ist Tamars Welt noch in Ordnung, auf einem Bild ist das Nähmaschinen-Geschäft ihrer Tante zu sehen. Es folgt ein überhasteter Aufbruch, Tamar muss sich entscheiden, was sie mitnimmt, Motorengeräusch. Das Mädchen wird bei seiner Tante versteckt.

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Beklemmend wirken die Räume der Installation.

Sechs weitere Räume säumen einen kleinen Hof. Jeder steht für eine Station, die das 1938 geborene Kind während der Verfolgung durch die Nazis und auf der Flucht erlebt hat. Eine dunkle Kammer steht für den Bunker im Ghetto von Wilna, hier sieht Tamar ihren Vater zum letzten Mal. Acht Paar Schuhe stehen im nächsten Geviert. Unwillkürlich denkt man sich die Menschen dazu, zusammengepfercht in einem Viehwaggon. „Ich sage das nicht gern, aber wir waren froh, wenn einer starb, dann hatte man mehr Platz“, schilderte Dreifuss einmal die schreckliche Enge.

Auf dem Transport fasste ihre Mutter den Entschluss, zu fliehen. Im nächsten Raum liegen Kleidungsstücke, darüber hängt ein rotes Kinderkleid. Für ihren dritten Fluchtversuch zog Tamars Mutter aus einem Berg abgelegter Kleidung ein schönes Kostüm, riss den Judenstern ab und zog es an. Auch Tamar wurde schick gemacht. So gelang die Täuschung der Wachen.

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Für die Flucht vor den Nazis kleidete Tamar Dreifuss' Mutter sich selbst und ihre Tochter neu ein.

Mutter und Tochter gingen unbehelligt aus dem Lager. Auf der Flucht nahm Tamars Mutter jede Arbeit an. Auf einem Bauernhof folgte der Teil der Rettung, die Kindern besonders gut gefällt. Die beiden freundeten sich mit dem Furcht einflößenden Hofhund Tigris an, zwei Tage lang versteckten sie sich sogar in dessen Hütte.

Die überlebenden Familienmitglieder trafen sich in einem Garten

„Warum lieben Kinder Märchen, obwohl die oft grausam sind? Weil das Ende gut ist“, sagte Dreifuss. Und: „Ich bin das Ende. Die Kinder sollen keine schlechten Träume bekommen.“ In der Skulptur markiert der Ausgang mit grünen Stoffbahnen das gute Ende. Er symbolisiert den Garten der Tante, in dem sich die Überlebenden der Familie wieder trafen.

Schule will Antisemitismus entgegenwirken

Dickes Lob spendete Schulleiterin Diane Wiebecke der Projektgruppe für das Engagement in der Freizeit. Mehrmals mussten Lehrer und Schüler für die Tonaufnahmen zu Tamar Dreifuss nach München fahren. Wiebeck würdigte zudem, dass ein drängendes Thema dieser Zeit aufgegriffen wurde: „Wir wollen uns als Schule in Stellung bringen gegen Antisemitismus.“

Der Aufbau der Skulptur mit einer Grundfläche von sechs mal sechs Metern dauert rund vier Stunden. Ob sie auf Tournee durch andere Schulen gehen soll, hat die Projektgruppe noch nicht besprochen. Nächste Gelegenheit zur Besichtigung in der Gesamtschule ist anlässlich des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar. (kh)

Für Tamar Dreifuss, die von Angehörigen begleitet wurde, war die Anreise von München beschwerlich. Voriges Jahr sei ihr Mann gestorben, sagte die 83-Jährige, die Rollstuhl und Rollator nutzt. Doch die Präsentation der Skulptur, die ihr (Über-) Leben von 1940 bis 1944 erzählt, wollte sie nicht verpassen. „Das wollte ich mit erleben. Das zu sehen, ist einmalig.“

Kontakt zu Dreifuss besteht seit sechs Jahren

Seit 2015 kam die gelernte Erzieherin jedes Jahr in die Hennefer Gesamtschule, um zu den Fünftklässlern zu sprechen. „Wenn man heute in den Kursen fragt »Könnt ihr euch an Tamar Dreifuss erinnern?« kommt immer ein bewegtes »Ja«“, berichtete Dreymann. Begegnungen dieser Art seien besser als 100 Seiten Geschichtsbuch, bestätigte Bürgermeister Mario Dahm: „Geschichte braucht Geschichten und Gesichter.“

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„Die Kinder sind unsere Zukunft“, erklärte Tamar Dreifuss ihre Motivation. „Sie gehen später vielleicht in die Politik und sagen ihre Meinung. Das ist meine Art gegen Antisemitismus zu kämpfen, damit das, was vor 80 Jahren passiert ist, nicht noch einmal passiert.“ Eltern, Lehrer und Schüler erhoben sich zu minutenlangem Applaus.

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