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„Bricht ganze Generation weg“Kinderschutzbund-Chefin sieht Aufnahme von Kindern aus Gaza kritisch

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dpatopbilder - 08.08.2025, Palästinensische Gebiete, Gaza: Ein palästinensisches Kind steht inmitten der Trümmer nach einem israelischen Morgenangriff auf ein Haus.

Gaza: Ein palästinensisches Kind steht inmitten der Trümmer nach einem israelischen Morgenangriff auf ein Haus.

Bonn und weitere Städte wollen Kinder aus Gaza aufnehmen. Sybille Friedhofen sieht diesen Vorstoß kritisch.

Berichte und Bilder aus dem Krieg in Gaza erschüttern. Bonn, Düsseldorf und andere Städte in Deutschland wollen helfen, indem sie Kinder aus dem Kriegsgebiet aufnehmen möchten. Im Rhein-Sieg-Kreis haben sich noch keine Städte oder Gemeinden dazu bekannt. Ist das die Art von Hilfe, die verletzte und traumatisierte Kinder und Jugendliche benötigen? Darüber sprach Sibylle Friedhofen, Leiterin des Sankt Augustiner Kinderschutzbundes, mit Lilian von Storch.

Frau Friedhofen, wenn Sie derzeit auf die Situation der Kinder in Gaza blicken – was geht Ihnen als Leiterin des Sankt Augustiner Kinderschutzbundes durch den Kopf?

Sibylle Friedhofen: Die Not der Kinder, der Frauen, der ganzen Bevölkerung wird in diesem lang andauernden Konflikt immer stärker. Durch dieses körperliche und seelische Leid bricht im Endeffekt eine ganze heranwachsende Generation weg. Das gilt für Palästina und für Israel, aber auch für viele andere Staaten, wo Kinder auf der Flucht sind, wo sie verhungern, wo Mütter nicht wissen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen.

Unter anderem die Stadt Bonn hat sich bereit erklärt, verletzte und traumatisierte Kinder aus Gaza aufzunehmen. Wie bewerten Sie diesen Vorstoß?

Die Frage ist, wenn man die Kinder dort herausholt – wie kann man das Kindeswohl dann tatsächlich gewährleisten? Welche Kinder holt man nach Deutschland, welches Alter, welches Geschlecht, können Geschwisterkinder zusammenbleiben? Soll eine Bezugsperson mitkommen? Das halte ich für unabdingbar.

Auch wenn die Umgebung noch so schlimm ist – ich glaube, wenn ein Kind von seinen Bezugspersonen entfernt wird, dann nimmt die Traumatisierung nochmal zu. Natürlich kann ich das Kind mit Herz und Seele aufnehmen, aber was bringt das, wenn es dann nicht bei den Menschen ist, die ihm bisher noch einen gewissen Halt gegeben haben?

Man könnte auch argumentieren, dass gerade schwer traumatisierte Kinder Ruhe, Sicherheit und professionelle Begleitung brauchen – und das ist in einem permanent bombardierten Umfeld nicht realistisch.

Wenn man sagt, wir nehmen Kinder auf, muss es dafür einen konkreten Plan geben, es muss gesichert sein, dass die notwendigen Mittel da sind. Städte wie Bonn und Düsseldorf haben geäußert, Kinder aufnehmen zu wollen, aber da bleiben viele Fragen offen. Wo und wie sollen die Kinder untergebracht werden? Gibt es genügend Fachkräfte und Infrastruktur für ihre medizinische Versorgung? Und für die psychologische Betreuung traumatisierter Kinder und Jugendlicher? Auch in Gaza bräuchte man zuerst einen Überblick über alle dort lebenden Kinder, von den Säuglingen bis zu den 16-Jährigen, es müsste eine Auswahl erfolgen. Das sehe ich mit großer Sorge und Skepsis.

Sibylle Friedhofen, Leiterin des Kinderschutzbundes Sankt Augustin.

Sibylle Friedhofen, Leiterin des Kinderschutzbundes Sankt Augustin.

Der Kinderschutzbund setzt sich bundesweit für Kinderrechte ein. Wo sehen Sie diese in Gaza gerade besonders gefährdet oder verletzt?

Kinderrechte bedeuten, dass Kinder gesund aufwachsen sollen – gesund an Seele und Körper. Das ist derzeit im Gazastreifen überhaupt nicht möglich. Wie sollen Kinder ernährt werden, wenn Hilfsgüter nicht ankommen? Mütter sind nicht mehr in der Lage, ihre Kinder zu stillen, weil auch ihnen die Nahrung dazu fehlt. Was passiert, wenn Menschen hungern? Dann geht der Kampf ums Überleben los, auch der gegenseitige Hass wächst. Kinder brauchen Liebe, Fürsorge und Sicherheit.

Welche Maßnahmen wären aus Ihrer Sicht angemessen?

Wir und die, die Einfluss nehmen können auf politisches Geschehen, müssen dafür Sorge tragen, dass ein Waffenstillstand eintritt und dass die humanitäre Versorgung Vorort gewährleistet wird. Ich kann nicht alle – ich glaube, es sind fast 400.000 Kinder – hierher verpflanzen. Ich brauche Menschen, die in der Lage sind, sie in ihrer Heimat zu versorgen, also darin erfahrene internationale Organisationen, die entsprechende Erfahrungen aus Krisengebieten mitbringen.

Schlussendlich halte ich es für wichtig, dass alle diplomatischen Geschicke eingesetzt werden, um diesen Krieg zu beenden. Es werden auf beiden Seiten Kinder verletzt und getötet.

Im Rhein-Sieg-Kreis blieb es um das Thema bisher sehr still. Woran, denken Sie, könnte das liegen?

Im Rhein-Sieg-Kreis gibt es viel ehrenamtliche Arbeit rund um Geflüchtete, materielle Unterstützung für die Ukraine wird nach wie vor gesammelt. Gerade hier in Sankt Augustin glaube ich, dass viele Menschen auch bezüglich des Krieges in Gaza unterstützen wollen. Dazu bedarf es aber Entscheidungen auf Bundesebene, um einen Rahmen zu schaffen, in dem wir agieren können.

Das ist zuerst eine bundespolitische Frage und dann eine föderative Ländersache, die es dann im Endeffekt auf die Kommunen herunterbricht: Was kann eine Kommune leisten, materiell, räumlich und mit der Bevölkerung und den Fachkräften, die vorhanden sind? Das wäre vorab zu klären.

Was können Politikerinnen und Politiker, aber auch Bürgerinnen und Bürger auf lokaler Ebene dennoch tun?

Ich glaube, wenn wir alle solidarisch wären, dann könnten wir schon viel zur Beendigung des Krieges beitragen. Das kann jeder Mensch, der in Deutschland lebt. Nicht nur schweigen und abwarten, was passiert, wir müssen laut werden – deswegen sitze auch ich heute hier. Ich wünsche mir, dass wir all unsere demokratischen Möglichkeiten einsetzen, um dieses Unmenschliche im Nahen Osten zu beenden.

Das wünsche ich mir von der Politik, aber ich wünsche mir auch mehr Mut in unserer Gesellschaft, sich gegen Kriege zu wenden. Es ist unglaublich viel zu tun, aber laut werden können wir. Die freie Meinungsäußerung ist ja durch das Grundgesetz gewährleistet in unserem demokratischen Staat, der Bundesrepublik Deutschland.


Die UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell wies im Juli vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen darauf hin, dass Berichten zufolge in den vergangenen 21 Monaten im Gazastreifen mehr als 17.000 Kinder getötet und 33.000 verletzt worden sind. Im Durchschnitt seien in diesem Zeitraum somit jeden Tag 28 Kinder durch den Krieg gestorben.