Als Kleinkind nach Auschwitz verschlepptWie eine Holocaustüberlebende 2022 ihre Familie wiederfand

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Menschen gehen neben dem „Arbeit Macht Frei“-Tor des ehemaligen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.

Menschen gehen neben dem „Arbeit Macht Frei“-Tor des ehemaligen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.

Anna Strishkowa hat Jahrzehnte vergeblich versucht, ihre Herkunft herauszufinden. Nun halfen ihr ein Filmemacher, das LKA und ein Holocaustforscher. 

Es ist eiskalt an diesem dritten Advent des vergangenen Jahres. Luigi Toscano hat seine Hände tief in die Taschen seines Anoraks geschoben. Der Mannheimer Filmemacher mit italienischen Wurzeln steht auf dem Gedenkfriedhof im polnischen Potulice und dirigiert ein dreiköpfiges Kamerateam, das ihn vor dem Grab von Arkadij Ivanow filmt.

Der Junge starb im Mai 1944 als Sechsjähriger in diesem Dorf weitab seiner Heimat. Auf der Grabplatte, die an einem Betonkreuz befestigt ist, stehen noch zwei weitere Namen. Auch Aleksiej und Bogdan sind jung gestorben. Hinter diesem Kreuz erheben sich aus akkurat gestutzten Thujabüschen weitere Hunderte Kreuze.

Holocaustüberlebende Anna Strishkowa.

Holocaustüberlebende Anna Strishkowa.

Die meisten der Toten auf diesem Friedhof waren Kinder. Sie stammen aus Belarus. Die Väter, häufig Bauern, kämpften als Partisanen im Zweiten Weltkrieg gegen die deutschen Aggressoren. Einsatzgruppen und Sonderkommandos der SS jagten sie, brannten ihre Dörfer nieder, ließen Frauen und Kinder in Vernichtungs­lager wie Auschwitz-Birkenau deportieren.

Bandenkinder landen nordwestlich von Warschau

Die Mütter wurden zur Zwangsarbeit weitergeschickt oder sofort vergast. Die sogenannten Bandenkinder landeten schließlich hier, im Ostjugendbewahrlager Potulitz-Lebrechtsdorf, 300 Kilometer nordwestlich von Warschau.

Für Toscano schließt sich an diesem stillen Ort der Kreis einer Suche im Auftrag der 81‑jährigen Kiewerin Anna Strishkowa. Diese Suche hatte ihn und sein kleines Team in den letzten Monaten an Orte wie Oświęcim (Auschwitz) oder Bydgoszcz (Bromberg) in Polen geführt, nach Kiew, Lwiw und Drohobytsch in der Ukraine, nach Stuttgart und Unna in Deutschland. Eine Suche, die auch mitten im russischen Angriffskrieg weiter­geführt wurde. Eine Suche, bei der die internationale Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und das Arolsen-Archiv in Hessen mithalfen.

Toscano hat sich entschlossen, aus dieser Recherche einen Dokumentarfilm zu machen. Er wird schlicht „Anna“ heißen und in diesem Jahr zu sehen sein.

Der 50‑Jährige hatte die alte Dame vor mehr als sechs Jahren kennengelernt. Damals porträtierte Toscano sie als ukrainische Holocaustüberlebende für sein weltweites Fotoprojekt „Lest We Forget“, für das er als UNESCO-Artist for Peace und mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet worden ist. Die beiden mochten sich und blieben lose in Kontakt.

Annas Vita weist eine schmerzhafte Lücke auf. Sie weiß, dass sie als Kind nach Auschwitz deportiert worden war. Sie weiß, dass ihr dort von Menschen in weißen Kitteln Schmerzen zugefügt worden sind. Die Teenagerin Anna erfuhr schließlich von ihren Eltern, dass sie von ihnen nach Kriegsende adoptiert worden war.

In seiner KGB‑Personalakte berichtet der Adoptivvater, dass er das Kind „aus einer Anzahl von Kindern“, die elternlos aus Lagern kamen, am 1. Mai 1945 adoptiert hätte. Sie heiße nun Kowal, Anna Mychailowna. Eine medizinische Kommission hatte ihr Geburtsdatum auf den 1. Mai 1941 festgelegt.

Anna kennt weder ihre leiblichen Eltern, noch weiß sie, wie sie wirklich heißt, wann sie geboren wurde und woher sie eigentlich stammt.

Ihre ukrainischen Adoptiveltern, der sowjetische KGB‑Major Mychailo Kowal und die Parteiangestellte Annissija Sasimko, hatten der kleinen Anna die in den linken Arm eintätowierte Auschwitz-Nummer ärztlich entfernen lassen. „Sie wollten mir einen Neustart ermöglichen“, erinnert sie sich, „unbeeinträchtigt von der Vergangenheit.“ Doch funktioniert das? „Ich habe mich damit arrangiert.“

„Der Stammbaum meiner Mutter ist leer“

Im Inneren blieben Fragen, räumt Anna, deren Mann schon vor langer Zeit gestorben ist, ein. Sie lebt in einer kleinen Plattenbauwohnung in der Nähe des Präsidentenpalastes in Kiew mit ihrer 46‑jährigen Tochter Olga und dem Schwiegersohn, der als Berufssoldat in der ukrainischen Armee kämpft.

Olga, wie ihre Mutter Infektionsbiologin, drängte sie, mit Toscanos Hilfe mehr herauszufinden. „Ich zeichne gern Familienstammbäume. Die Seite meines Vaters ist weitverzweigt, die meiner Mutter ist leer.“

Die Suche des Deutschen, der vom ukrainischen Holocaustforscher Artem Ieromenko (41) und dessen Frau Kateryna Iesikova (36) als Film-Projektkoordinatorin unterstützt wird, startet 2021 mit einem Irrweg.

Ein orthodoxer Jude läuft an einer Wand mit Bildern von Auschwitz-Opfern vorbei.

Ein orthodoxer Jude läuft an einer Wand mit Bildern von Auschwitz-Opfern vorbei.

Es gibt zwei sowjetische Dokumentarfilme aus den Jahren 1945 und 1958, in denen auch über Anna berichtet wird. Im ersten körnigen Schwarz-Weiß-Streifen ist sie als ausgemergeltes Kind mit kurz geschorenen Haaren unmittelbar nach der Befreiung zu sehen. Als ihr linker Ärmel hochgezogen wird, erscheint die Auschwitz-Tätowierung. „Sie musste die Nummer 69929 tragen“, erklärt der Sprecher gleichzeitig in russischer Sprache.

Anna Strishkowa besitzt ein Dokument, in dem ihr das Auschwitz-Archiv bestätigt, dass es einen Häftling mit dieser Nummer im Konzentrationslager gegeben hat. Weitere Recherchen Toscanos ergeben jedoch nichts. Die Deutschen hatten viele Dokumente vor dem Eintreffen der Roten Armee vernichtet.

Serafima Velkovich, Forscherin in Yad Vashem, findet schließlich eine Häftlingsakte mit Annas Nummer. Registriert hatten die Deutschen darunter allerdings im August 1944 die 55‑jährige Belarussin Agafja Ranzowa, zunächst im KZ Ravensbrück, dann im KZ Buchenwald. Hier verlieren sich die Spuren der Frau. Die Suche nach der Herkunft von Anna Strishkowa gelangt damit in eine Sackgasse.

Rätsel um Auschwitz-Nummer

Die Beteiligten sind frustriert. Der Historiker Ieromenko geht davon aus, dass die Auschwitz-Nummer von den Deutschen nicht zweimal vergeben wurde. Er versucht es lange mit anderen Nummernkombinationen – ergebnislos.

Dann kommt der 24. Februar 2022 – Russland greift die Ukraine an. Kiew gerät unter Beschuss. Anna lehnt Toscanos Angebote, sie nach Deutschland zu holen, ab. „Wir werden siegen“, sagt sie. Der Historiker, seine Frau und ihr dreijähriger Sohn fliehen vor den russischen Raketen in den Westen der Ukraine. Doch sie machen weiter. Artem Ieromenko sieht es pragmatisch: „Die Recherche ist eine gute Gelegenheit, nicht ständig an diesen Krieg zu denken.“

Rechercheteam am Nullpunkt

Problem: Sämtliche Archive in der Ukraine schließen und werden in Sicherheit gebracht. Auch Ieromenkos früheres Institut für Holocaust-Studien in Dnipro macht zu. Er selbst darf als wehrfähiger Mann die Ukraine nicht mehr verlassen. Der Wissenschaftler muss persönliche Kontakte nutzen, was in diesen Kriegszeiten schwieriger ist. Als das Team um den Filmemacher am Nullpunkt angekommen scheint, erinnert sich Toscano an den sowjetischen Propagandastreifen mit Anna.

Strishkowa mit ihrer Tochter Olga.

Strishkowa mit ihrer Tochter Olga.

Der Mannheimer bittet bei „seinem“ Landeskriminalamt in Stuttgart um Hilfe. Können Fachleute die im Film gezeigte Nummer auf Annas linkem Unterarm zweifelsfrei klären? LKA-Präsident Andreas Stenger glaubt an seine Leute. „Wir werden alles versuchen“, sagt der Polizist zu. Die LKA-Datenforensikerin Daniela Weiß optimiert die Aufnahmen technisch so weit, dass die Nummer klar erkennbar ist – nicht 69929, sondern 61929 lautet sie.

„Das war der Durchbruch“, erinnert sich Toscano.

Zunächst tritt jedoch im Sommer 2022 bei einem zweiten Besuch des Auschwitz-Archivs mit der neuen Zahlen­kombination Ernüchterung ein. „Da ist nichts“, sagt Mitarbeiter Szymon Kowalski. Wie zum Beweis blättert er in einem mehrseitigen Dokument der Lagerverwaltung mit anzeigepflichtigen Krankheiten aus dem Februar 1944 – und stockt plötzlich. Kowalski traut seinen Augen kaum. Hier steht in Schreibmaschinenlettern auf dem vergilbten Blatt „An den Leitenden Arzt bei Reichssicherheitshauptamt“: „Erkrankung an Keuchhusten am 7.2.44: Iwanowa, Anna, 61929, geb. 1939″.

Endlich ein Name. Und auch das Alter könnte stimmen.

Das Dokument war aber nicht in Auschwitz ausgestellt worden, sondern im Lager Potulitz-Lebrechtsdorf, im heutigen Potulice. Der ukrainische Holocaustforscher kann die Teile des Geschichtspuzzles mithilfe der ihm zugänglichen Quellen schnell zusammensetzen.

Anna, die sich daran erinnern kann, dass die Kinder im Lager sie so angesprochen haben, war eins der soge­nannten Bandenkinder. Sie stammt aus dem belarussischen Dorf Pronino, in dem 118 Menschen wohnten, bevor ein SS‑Einsatzkommando es 1942 dem Erdboden gleichmachte. Ihr Vater Trofim Isakowytsch Iwanow, 1911 geboren, hatte sich zunächst Partisanen angeschlossen, fiel 1944 als Soldat der Roten Armee.

Schicksal der Mutter unbekannt

Ihre Mutter Maria Iwanowa musste mit ihren Töchtern Alexandra, genannt Schura (geboren 1936), Galina (1938/39), Anna (wahrscheinlich 1939 geboren) und ihrem Jüngsten, Wassili, zunächst in ein Lager in Witebsk (Belarus). Im September 1943 gehörte die Familie zu einer Gruppe von 753 Frauen (darunter 180 Mädchen) und 459 Männern (225 Jungen), die vom SS‑Einsatzkommando 9 ins KZ Auschwitz deportiert worden sind. Was mit Maria Iwanowa geschah, ist noch unbekannt.

Im November 1943 ging ein Transport von 241 Jungen und 301 Mädchen nach Lebrechtsdorf (Potulice). Mit dabei: die Schwestern Galina, Schura und Anna Trofimowna Iwanowa. Ihre Auschwitz-Tätowierungen: 61927, 61928 und 61929.

So unbekannt dieses Lager ist, für die Kinder war es die Hölle, sagt Mariusz Gratkowski vom Landesmuseum im nahe gelegenen Naklo nad Notecia. „Inhaftierung sogar von Säuglingen, Hunger, Schläge und Demüti­gungen, Zwangsarbeit von Zwölfjährigen, Durchführung unmenschlicher medizinischer Experimente, erzwungene Blutentnahmen in großem Ausmaß, Mord und Entführung zur Germanisierung – das ist eine lange Liste von Kriegsverbrechen. Leider wurden nur wenige der Täter vor Gericht gestellt.“

Schwestern überlebten das Lager

Im Gegensatz zu Cousin Arkadij, der im Lager Lebrechtsdorf an Typhus erkrankt und stirbt, überleben die drei Mädchen diesen Ort des Grauens und eine Odyssee durch mehrere Evakuierungslager in den letzten Kriegs­monaten. Galina, findet Artem Ieromenko heraus, hatte in den 1980er-Jahren dem ukrainischen Journalisten Wolodymyr Lytwynow darüber berichtet. Er forschte jahrelang über die Lebensgeschichten von KZ‑Kindern. Sein Archiv ist nur noch teilweise im Kiewer Nationalmuseum der Geschichte der Ukraine im Zweiten Welt­krieg erhalten.

Annas Schwester erzählte dem Journalisten damals, dass sie gemeinsam mit der älteren Schwester Schura nach der Befreiung zunächst in ein Waisenhaus in Kiew kam. Anna war nicht mehr dabei. Sie würde die jüngere Schwester seither suchen.

Auf der Rückseite einer Karteikarte Lytwynows findet der Historiker Ieromenko Galinas damalige Adresse im westukrainischen Drohobytsch, 80 Kilometer südwestlich von Lwiw. Er bittet einen Freund, der sich dort gerade als Wehrpflichtiger registrieren lässt, dort vorbeizuschauen. Der findet im vergangenen August Galinas Tochter Olena, die als Gerichtsvollzieherin arbeitet. Sie ist verblüfft, als der Fremde nach ihrer Mutter fragt. Doch sie versteht schnell, worum es geht.

Anna zeitlebens gesucht

Annas Schwester Galina, die bis zur Rente als Schneiderin gearbeitet hatte, ist 2017 gestorben. „Sie hat zeitlebens nach Anna gesucht“, erzählt die 49‑jährige Olena. Ihre zwei Jahre ältere Schwester Tetiana hat der Krieg in der Heimat ins westfälische Unna vertrieben. „Unsere Mutter hatte bis Anfang der 1960er‑Jahre Briefkontakt zu ihrer großen Schwester, die als Landarbeiterin nach Kasachstan gegangen war. Dann erfuhr sie von Schuras Tod. Mehr haben wir nie herausgefunden“, so Tetiana.

Galina hat ihren Töchtern vom schrecklichen Schicksal des jüngsten Bruders Wassili berichtet, der damals vielleicht ein Jahr alt gewesen sei. „Auf dem Transport nach Auschwitz hat er nur geschrien und geschrien, hat ihr Schura erzählt“, gibt Tetiana die Worte ihrer Mutter wieder. „Ein SS‑Mann war davon genervt und warf das Baby während der Fahrt aus dem Waggon. Das wird ihn getötet haben.“

Anna Strishkowa ist zunächst wie erstarrt, als Luigi Toscano ihr Mitte September 2022 berichtet, was er und sein Team über die Geschichte ihrer Familie herausgefunden haben. Ein DNA‑Test hatte inzwischen die nahe Verwandtschaft zwischen Anna und ihren Nichten bestätigt. Sie sitzt etwas verloren auf ihrem Bett in Kiew, Toscano hält ihre Hand in seiner. Ihr wird klar, dass sie die letzte Überlebende ihrer Ursprungsfamilie ist.

„Ich habe nicht mehr daran geglaubt“, flüstert sie. „Willst du sie sehen?“, fragt er. „Ja“, sagt Anna.

Erstes Treffen per Zoom

Die Kriegslage in der Ukraine hat bislang ein persönliches Treffen unmöglich gemacht. Ende September 2022 treffen sich die vier Frauen – Anna und ihre Tochter Olga sowie Galinas Töchter Olena und Tetiana – erstmals per Videokonferenz. Es wird ein freundliches, halbstündiges Abtasten miteinander verbundener, sich teilweise fremder Menschen. Sie möchten alles voneinander erfahren, doch noch fehlen ihnen die Worte dafür.

Anna will sich nicht anmerken lassen, wie bewegt sie ist. „Du hast mich jetzt zwei Jahre älter gemacht, Luigi“, sagt sie leise. Ihre Tochter Olga ist glücklich. „Ich habe mir schon immer Geschwister gewünscht, jetzt habe ich Cousinen.“ Olena merkt lächelnd an, dass Anna ihre Brille mit derselben Bewegung gerade rückt, wie es ihre Mutter Galina immer getan hat. Und Tetiana in Unna sagt unter Tränen: „Ich möchte meine Tante endlich umarmen – für meine Mutter und für mich.“

Luigi Toscano lässt sein Kamerateam noch letzte Szenen für „Anna“ auf dem Kinderfriedhof von Potulice drehen. „Er wird zeigen, dass auch in diesem verdammten Krieg Wunder möglich sind.“

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