Amtseinführung des US-PräsidentenBiden verspricht Heilung anstelle des „Gemetzels“

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US-Präsident Joe Biden leistet seinen Amtseid

Washington – Ist es wirklich erst ein paar Tage her, dass der rechte Mob die weiße Tribüne hier an der Westseite des Kapitols besetzte? Dass drinnen rechtsextreme Gewalttäter auf Polizisten einschlugen und Politikern nach dem Leben trachteten? Und hat der Mann, der seine Anhänger dazu anstiftete, tatsächlich erst vor drei Stunden das Weiße Haus verlassen?

Um 11.49 Uhr an diesem kühlen, windigen Januarmorgen scheint in Washington plötzlich eine neue Zeit anzubrechen, und für einen Moment könnte man glauben, das ganze Land sei aus einem langen Alptraum erwacht. Da legt ein 78-jähriger Mann seine Hand ruhig auf eine schwere Familienbibel mit einem Keltenkreuz und schwört, dass er sein Bestes geben wird, um die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu schützen. Er wolle ein Präsident aller Amerikaner sein, verspricht Joe Biden: „Ich werde ebenso hart für die kämpfen, die mich unterstützen, wie für die, die mich nicht unterstützen.“

Das sind Wort, wie man sie vier Jahre lang nicht vom amerikanischen Präsidenten gehört hat. Schon gar nicht hat man eine schwarze Frau als Stellvertreterin an seiner Seite gesehen. Plötzlich ist von Anstand, Respekt und Toleranz die Rede, wo lange nur Hass und Verleumdungen gepredigt wurden. „Wir müssen diesen unzivilisierten Krieg zwischen Rot und Blau (den Parteifarben von Republikanern und Demokraten, d. Red.) und zwischen dem Land und den Städten beenden!“, fordert der neue Präsident.

In vieler Hinsicht beispielloser Amtswechsel 

Das ist ein extremer Wechsel von Botschaft und Ton. Auch sonst wirkt der Amtswechsel vom 45. zum 46. Präsidenten der USA in vielerlei anderer Hinsicht beispiellos: Er findet nicht nur kurz nach einem rechten Umsturzversuch, sondern auch mitten in der Corona-Pandemie statt, die in Amerika mehr als 400.000 Menschen das Leben gekostet hat.

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Schon lange war deshalb klar, dass die Teilnehmerzahl für die Inauguration extrem beschränkt sein würden. Nach dem Sturm auf das Kapitol ist die ganze Stadt in einen Hochsicherheitstrakt mit 25.000 Soldaten verwandelt worden, und auf der National Mall, wo sonst Hunderttausende Zuschauer feiern, weht nur ein Meer von rot-weiß-blauen Fahnen.

Joe Biden bleibt nicht bei der pathetischen Beschwörung der siegreichen Demokratie stehen. Eindringlich mahnt er: „Es gibt viel zu reparieren, wiederherzustellen und zu heilen!“ In seinem ganzen Wahlkampf hat der ehemalige Vizepräsident von Barack Obama für die Versöhnung des tief zerrissenen Landes geworben.

Die Überwindung der Spaltung ist auch das Leitmotiv seiner Rede zur Amtseinführung: Seine „ganze Seele“ wolle er darauf verwenden, „Amerika zusammenzubringen, die Menschen auszusöhnen und die Nation zu einen“, verspricht er in Abwandlung eines Zitats des Gründervaters Abraham Lincoln und fordert alle Bürger auf, ihn dabei zu unterstützen.

„Politik ist kein wütendes Feuer, das alles in seinem Weg zerstört“, betont Biden. Der Kontrast zur Antrittsrede von Donald Trump vor vier Jahren, als dieser von einem „amerikanischen Gemetzel“ sprach, könnte kaum größer sein. Als erster Präsident seit 150 Jahren ist Trump der Vereidigung seines Nachfolgers ferngeblieben. In einer letzten Botschaft wünscht er der neuen Regierung „viel Glück“.

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Der ehemalige US-Präsident Donald Trump am Mittwoch bei seiner Abreise aus Washington mit dem Helikopter Marine One 

Den Namen des neuen Präsidenten, von dem er bis zuletzt behauptet hat, dass er nicht rechtmäßig gewählt worden sei, spricht er nicht aus. Umgekehrt ignoriert Biden den Möchtegern-Autokraten in seiner Ansprache einfach, als er freundlich seine „Vorgänger aus beiden Parteien“ begrüßt: Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama sitzen mit ihren Frauen auf der Tribüne.

Auch Trumps Vizepräsident Mike Pence ist gekommen. Die bizarre Abschiedszeremonie mit 21 Salut-Schüssen und dem Partysong „YMCA“, die Trump für sich organisieren lässt, besucht er nicht. Biden ist kein großer Redner. Seine Vorträge glänzen selten durch rhetorische Girlanden. Aber der Sohn eines Autohändlers aus Scranton im Kohlestaat Pennsylvania spricht an diesem Tag klar, entschlossen und vor allem authentisch. Man nimmt ihm seine Absage an  „politischen Extremismus, weißen Rassismus und heimischen Terrorismus“ ab, wenn man seine Empörung nach dem gewaltsamen Neonazi-Aufmarsch von Charlottesville erlebt hat. Man spürt seine ehrliche Empörung über eine „Kultur, in der Fakten manipuliert und erfunden werden“. Vor allem aber glaubt man ihm seine Anteilnahme für Sorgen und Leid vieler Amerikaner.

Schon am Vorabend, gleich nach seiner Ankunft in Washington, hat Biden ein bemerkenswertes Zeichen gesetzt, als er bei Sonnenuntergang gemeinsam mit seiner Frau Jill und der neuen Vizepräsidentin Kamala Harris samt deren Ehemann Doug Emhoff bei einer Zeremonie vor dem Lincoln-Memorial der 400.000 amerikanischen Corona-Toten gedachte. „Um heilen zu können, müssen wir uns erinnern“, hatte er da gesagt.

Biden weiß, wovon er spricht: Das Leben des gläubigen Katholiken ist von Schicksalsschlägen gezeichnet. Als junger Mann verlor er seine erste Frau und eine Tochter bei einem Verkehrsunfall. Jahrzehnte später musste er seinen an einem Gehirntumor verstorbenen Sohn Beau beerdigen. Noch heute kann er die Tränen kaum zurückhalten, wenn er von ihm spricht.

Inzwischen ist es 33 Jahre her, dass sich Biden erstmals um die Präsidentschaft bewarb. Er scheiterte zweimal. Auch dieses Mal gab es anfangs deutliche Vorbehalte gegen den alten weißen Mann in seiner Partei.

Doch in diesem Moment einer dreifachen epidemiologischen, politischen und wirtschaftlichen Krise wirkt der ebenso erfahrene wie empathische Pragmatiker auf einmal wie die ideale Besetzung für ein aufgewühltes Land und ein in seinen demokratischen Fundamenten schwer beschädigtes Weißes Haus.

Dort ziehen Joe und Jill Biden am Nachmittag ein – freilich erst nach einer Grundreinigung des Gebäudes. Der Präsident will beim Umsteuern des Landes keine Zeit verlieren. Noch vor einer für den amerikanischen Abend geplanten virtuellen Feier, so ist es geplant, wird er eine Reihe präsidialer Verordnungen unterschreiben, mit denen unter anderem die USA ins Pariser Klimaschutzabkommen zurückkehren, das Tragen von Masken auf öffentlichem Grund vorgeschrieben und der Einreisestopp für Bürger aus überwiegend muslimischen Staaten aufgehoben wird.

Rund 1000 Meilen südlich richtet sich derweil Vorgänger Trump in seinem neuen Domizil Mar-a-Lago in Florida ein. „Ich werde das alles beobachten“, hat er vor seinem Abflug gesagt: „Und ich komme in irgendeiner Art wieder.“ So redet der einstige Reality-TV-Star gerne. Doch an diesem Tag des wohltuenden kollektiven Spannungsabbaus klingt es wie eine Drohung.   

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