Ursprung von CoronaFledermaus, Marderhund, Larvenroller – Was geschah in Wuhan?

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Große Hufeisennase (Rhinolophus ferrumequinum) im Flug bei Nacht

Große Hufeisennase (Rhinolophus ferrumequinum) im Flug bei Nacht

Wie und wo das Coronavirus entstanden ist, ist noch immer nicht ganz geklärt. Zwischenbericht zum Stand der Forschung.

Florence Débarre traut ihren Augen nicht. Anfang März sitzt sie an ihrem Computer und sucht nach neuen Gensequenzdaten zum Coronavirus. Dem Erreger, der in den vergangenen vier Jahren fast 700 Millionen Menschen infiziert und mehr als sechs Millionen von ihnen getötet hat.

„Sequenzen, China, Januar 2020“, tippt die Biologin vom französischen nationalen Forschungsinstitut CNRS in die Suchleiste der Onlinedatenbank GISAID ein – und stößt auf einen wahren Schatz. Daten zu Erbgutsequenzen aus Abstrichen, die chinesische Forschende auf dem Huanan-Markt in Wuhan genommen haben, tauchen auf. „Seit einem Jahr suchte ich nach diesen Daten, und da waren sie!“, sagt Débarre vor wenigen Tagen stolz in einem „Spiegel“-Interview.

Coronavirus: Waren es Marderhunde?

Die Marktproben sind eindeutig: Neben SARS-CoV-2 enthalten sie tierisches Genmaterial – vielfach vom Marderhund. Die fuchsgroßen Tiere werden wegen ihres dichten Winterfells zuhauf in Pelztierfarmen gehalten. Die Daten, die Débarre entdeckt hat, zeigen: Es könnten Marderhunde gewesen sein, die das Coronavirus auf den Menschen übertragen haben.

China, Guangzhou: Marderhunde liegen in engen Käfigen auf dem Xin Yuan Markt. Vorläufige Ergebnisse einer neuen genetischen Untersuchung stützen dem Berliner Virologen Drosten zufolge die Vermutung eines natürlichen Ursprungs von Sars-CoV-2. D

Marderhunde liegen im chinesischen Guangzhou in engen Käfigen auf dem Xin Yuan Markt. Vorläufige Ergebnisse einer neuen genetischen Untersuchung stützen dem Berliner Virologen Drosten zufolge die Vermutung eines natürlichen Ursprungs von Sars-CoV-2. (Archivbild)

Ist das der entscheidende noch fehlende Hinweis darauf, wie und wo die Pandemie ihren Anfang genommen hat?

Pandemie: Lernen für das nächste Mal

„Es ist ein kleines Puzzleteilchen im großen Puzzle des Corona-Ursprungs“, sagt Fabian Leendertz, Gründungsdirektor des Helmholtz-Instituts für One Health in Greifswald. „Aber jedes Puzzleteil zählt.“

Denn auch vier Jahre nach den ersten Fällen sei es noch immer wichtig, den Ursprung des Coronavirus zu ergründen. „Indem wir lernen, was schiefgelaufen ist, können wir über mögliche Gegenmaßnahmen für die Zukunft nachdenken.“ Es geht letztlich darum, die nächste Pandemie zu verhindern.

Indem wir lernen, was schiefgelaufen ist, können wir über mögliche Gegenmaßnahmen für die Zukunft nachdenken
abian Leendertz, Gründungsdirektor des Helmholtz-Instituts für One Health in Greifswald

Die Geschichte von SARS-CoV-2 beginnt im Dezember 2019, als erste Kranke sich mit einer merkwürdigen Lungenerkrankung bei Ärzten und Ärztinnen in Wuhan melden. Am 7. Januar 2020 isoliert ein Labor erstmals ein Virus aus Proben, die bei den Erkrankten genommen wurden: Es ist ein neuartiges Coronavirus. SARS-CoV-2.

Seit den 1960er-Jahren weiß die Medizin um Coronaviren. Besonders SARS-CoV hat die Virenfamilie Anfang des Jahrtausends bekannt gemacht. Der Erreger löste von 2002 bis 2003 die erste Pandemie des 21. Jahrhunderts aus, mit knapp 1000 Todesopfern. Die ersten Fälle traten in der chinesischen Provinz Guangdong auf. Vermutlich stammte das Virus von einem Wildtiermarkt.

Auch beim Ursprung von SARS-CoV-2 rückt ein Wildtiermarkt in den Fokus: der Huanan Seafood Market. Viele Menschen, die in der ersten Januarwoche 2020 in Wuhan erkranken, haben als Händler oder Käufer eine direkte Verbindung zum Markt. Die Gesundheitsbehörden reagieren prompt: Sie schließen den Markt, sammeln Umweltproben und beginnen, die Stände und Verkaufsflächen zu desinfizieren.

Doch dieses Vorgehen sorgt auch für Misstrauen. Kann es sein, dass die Behörden Spuren verwischen, um zu vertuschen, dass das Virus menschengemacht ist? Dass es aus dem Institut für Virologie stammt, das in Wuhan angesiedelt ist?

Die Theorie vom Laborunfall

Dieses Institut ist eines der Zentren der internationalen Coronavirus-Forschung. Wie genau die Forschungsarbeit aussieht, ist jedoch unklar. Ebenso wenig ist bekannt, ob das Institut Experimente durchführt, bei denen Organismen wie Viren mit neuen Eigenschaften ausgestattet werden.

Doch genau bei solch einem Experiment könnte das neue Coronavirus entstanden sein, lautet eine weit verbreitete Theorie. Über die Labormitarbeitenden könnte es unbemerkt seinen Weg nach draußen, mitten in die Millionenmetropole Wuhan gefunden haben. Dieser Laborunfall müsste sogar gleich zweimal passiert sein. Wie Forschende später feststellen, breiten sich vor Februar 2020 zwei verschiedene SARS-CoV-2-Linien in Wuhan aus: Linie A und Linie B. Ein zweifacher Laborunfall?

Ich wüsste nicht, wie der Beleg zur Labortheorie aussehen sollte
Fabian Leendertz,Direktor des Helmholtz-Instituts für One Health in Greifswald

„Das FBI geht schon seit geraumer Zeit davon aus, dass der Ursprung der Pandemie höchstwahrscheinlich ein möglicher Laborvorfall in Wuhan ist“, sagt der Direktor der US-Sicherheitsbehörde FBI, Christopher Wray, Anfang März. Was genau die Behörde herausgefunden hat, verschweigt sie jedoch.

„Ich wüsste nicht, wie dieser Beleg zur Labortheorie aussehen sollte“, sagt Zoonosenexperte Leendertz. Aus seiner Sicht ist diese Theorie vor allem „politisch motiviert“, im Machtspiel zwischen den USA und China. Er kennt keine Daten, die einen Laborunfall als Ursprung rechtfertigen. „Ich halte einen zoonotischen Ursprung des Coronavirus für wesentlich wahrscheinlicher.“

Mecklenburg-Vorpommern, Greifswald: Fabian Leendertz, Biologe, Veterinärmediziner und Gründungsdirektor des Helmholtz-Instituts für One Health (HIOH), Porträt vor unscharfem Hintergrund.

Fabian Leendertz, Biologe, Veterinärmediziner und Gründungsdirektor des Helmholtz-Instituts für One Health (HIOH).

Leendertz ist einer der internationalen Experten, die Anfang 2021 in Zusammenarbeit mit der WHO den Ursprung des Coronavirus genauer erforschen. In ihrem 120-seitigen Report kommen sie zu dem Schluss: SARS-CoV-2 ist von einem Tier auf den Menschen übergesprungen, womöglich auf dem Huanan-Markt.

Welches Tier könnte Überträger sein?

Die Frage ist nur: Welches Tier könnte SARS-CoV-2 und seine Vorgängervarianten dort auf den Menschen übertragen haben?

Nahe Verwandte des Coronavirus SARS-CoV haben ihr natürliches Reservoir in bestimmten Fledermausarten. Es gibt aber auch Tiere, die empfänglich für Coronaviren sind, darunter Larvenroller, Bambusratten oder Muntjaks. Die chinesischen Behörden bestreiten zunächst, dass in Lebendfallen gefangene Wildtiere auf dem Markt gehandelt werden. Evolutionsbiologe Michael Worobey beweist später das Gegenteil. Seiner Ansicht nach ist es jedoch „bemerkenswert“, dass keine der von ihm identifizierten Säugetierarten, die für SARS-CoV-2 hätten empfänglich sein können, im Januar 2020 von China auf das Virus getestet wurde. Jedenfalls wurden solche Tests nicht kommuniziert.

Ein Larvenroller auf dem Tiermarkt von Guangzhou, China aus dem Jahr 2004.

Ein Larvenroller auf dem Tiermarkt von Guangzhou, China aus dem Jahr 2004.

Débarres Entdeckung vor wenigen Wochen liefert nun den Beweis: Zumindest Marderhunde haben Händlerinnen und Händler 2019 auf dem Huanan-Markt verkauft. Die Daten, die die Biologin durch Zufall entdeckt hat, hätten nach Ansicht der WHO schon längst von Peking zur Verfügung gestellt werden müssen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Die Marderhund-Sequenzdaten sind wieder aus der GISAID-Datenbank verschwunden.

Gerüche der Marderhunde locken Fliegen an

Angenommen, es sind tatsächlich Marderhunde, die SARS-CoV-2 2019 auf den Menschen übertragen, wie und wo haben sie sich dann mit dem Virus infiziert? Hier kommen nach Einschätzung von Leendertz wieder die Fledermäuse ins Spiel. Es sei nicht unwahrscheinlich, dass um die Pelzfarmen viele Fledermäuse leben. Die Gerüche, die die Marderhunde verströmen, locken Fliegen an, die Nahrungsquelle für Fledermäuse sind. Am wahrscheinlichsten ist, dass die Marderhunde mit Kot der Flugtiere in Kontakt gekommen sind, in dem sich Coronaviren nachweisen lassen.

„Wir müssten als nächstes der Spur der Marderhunde folgen“, sagt Leendertz. Das heißt, es müssen gleich mehrere Fragen geklärt werden, nämlich: Wo kamen die Tiere, die 2019 auf dem Huanan-Markt verkauft wurden, her? Gibt es noch Tiere, die damals gelebt haben? Gibt es in der Nähe ihres Herkunftsorts Fledermäuse? Und wenn ja, welche? „Wir bräuchten eigentlich die gesamte Infektionskette.“

Komplizierte Spurensuche: Lücken in der Beweiskette

Doch genau daran scheitert die Suche nach dem Corona-Ursprung. Es gibt bisher keine Proben von den Herkunftsorten der Marderhunde – und somit weiterhin Lücken in der Beweiskette. Leendertz ist jedoch überzeugt: „Ich glaube, das Virus zirkuliert weiterhin in den Fledermäusen.“

Bisher sind es vor allem Java-Hufeisennasen, die als natürliches Reservoire von SARS-CoV-2 infragekommen. Denn sie tragen den nächsten Verwandten des Coronavirus: RaTG13. In Proben von erkrankten Minenarbeiten, die einen Schacht von Fledermauskot säuberten, fand das Institut für Virologie in Wuhan 2012 dieses Virus.

Wuhan: Arbeiter in Schutzkleidung tragen eine Tasche in der sich ein Riesensalamander befindet, der vom Huanan Seafood Market entkommen sein soll.

Wuhan: Arbeiter in Schutzkleidung tragen eine Tasche in der sich ein Riesensalamander befindet, der vom Huanan Seafood Market entkommen sein soll.

Im März 2020 stellt sich heraus: RaTG13 und SARS-CoV-2 sind zu 96 Prozent identisch. Es gibt jedoch einen zentralen Unterschied: RaTG13 bindet schlechter an menschliche Zellen. Doch Coronaviren können wie alle Viren mutieren. Es ist also möglich, dass RaTG13 über Wildtiere nach Wuhan gelangt und dort mehrfach auf den Menschen übergesprungen ist, wobei sich das Virus immer mehr angepasst hat. Beweisen lässt sich dieser Verdacht (noch) nicht.

Wird man jemals Patient null finden?

Bei all den Lücken stellt sich die Frage, ob sich der Ursprung des Coronavirus überhaupt jemals rekonstruieren lässt. Leendertz ist sicher: Patient null – also der Mensch, der sich zuerst mit SARS-CoV-2 infiziert hat – werde man nie finden. „Patient null wusste entweder nicht, dass er Patient null ist oder es gibt ihn schon gar nicht mehr.“

Zhangs Patienten sind sicherlich nicht die ersten gewesen, die das Virus 2019 angegriffen hat. „Ich glaube, wir werden am Ende bei einem sehr guten Szenario des Corona-Ursprungs bleiben“, sagt Leendertz. „So gut, dass es dann auch in die Schulbücher der Kinder eingehen wird.“

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