Gewalt, MissbrauchImmer wieder erheben Frauen Vorwürfe gegen Profifußballer

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Jerome Boateng 

  • Immer wieder wird Profifußballern vorgeworfen, eine Frau geschlagen oder vergewaltigt zu haben.
  • In den sozialen Netzwerken bezeichnen ihre Fans die Frauen als Lügnerinnen.
  • Doch könnte es sein, dass Fußballer tatsächlich vermehrt solche Straftaten begehen?

München – Weltmeister Jérôme Boateng, Ex-Nationalspieler Nico Schulz, VfB-Profi Atakan Karazor: Drei bekannte Profifußballer, die nach Ansicht ihrer Fans wahre Vorbilder sind – zumindest dann, wenn sie ihrer Mannschaft auf dem Platz zum Sieg verhelfen. Was die Männer in ihrem Privatleben machen? Ist vielen Anhängern und Followern egal. Alles, was zählt, sind die Punkte.

Doch abseits des Flutlichts dominierten in den vergangenen Monaten Schlagzeilen über die Fußballer, die ihren Status als Vorbild infrage stellen. Die Ex-Freundin des Dortmunders Nico Schulz hatte Anfang August Strafanzeige wegen häuslicher Gewalt gestellt: Er soll sie während ihrer Schwangerschaft misshandelt haben. Als mögliche Beweise werden zahlreiche Whatsapp-Chatverläufe zwischen Schulz und seiner Ex-Freundin angegeben, die auch im Netz kursierten: Angebliche Bilder der Chats zeigten, wie Schulz zugab, dass er seine Ex-Freundin geschlagen hatte: „Das habe ich gemacht, weil ich mit mir und der Situation überfordert bin“, soll Schulz dort geschrieben haben. Und die Bilder im Chat sollen die Wunden und blauen Flecke der Frau gezeigt haben, die Schulz ihr durch Schläge zugefügt haben soll.

Der BVB bezog zu der Strafanzeige in einer Mitteilung Stellung: Er nehme die Vorwürfe sehr ernst und distanziere sich von jeglicher Form der Gewalt – könne aber wegen der unklaren Sach- und Rechtslage noch keine Schritte gegen Schulz ergreifen. Der Verein behalte sich jedoch Maßnahmen für einen Zeitpunkt vor, zu dem mehr über den Fall bekannt sei. Der Verein gab zugleich bekannt, dass Nico Schulz die gegen ihn erhobenen Strafvorwürfe bestreitet. „Nico Schulz hat uns mitgeteilt, dass er sich mithilfe anwaltlichen Beistands gegen diese Vorwürfe zur Wehr setzen wird und obendrein die Unschuldsvermutung für sich in Anspruch nimmt“, hieß es in der Mitteilung.

Vergewaltigungsvorwürfe gegen zahlreiche Fußballer

Karazor saß im Sommer während seines Urlaubs auf Ibiza mehr als einen Monat in Untersuchungshaft, weil eine 18-jährige Frau ihm zunächst vorwarf, sie gemeinsam mit seinem Freund vergewaltigt zu haben. Inzwischen ist von sexueller Nötigung die Rede. Nur 16 Tage nach seiner Haftentlassung stand der 25-Jährige beim ersten Saisonspiel wieder auf dem Platz. Bis auf einige Buhrufe jubelten die Fans des VfB Stuttgart bei seiner Einwechslung. VfB-Sportdirektor Sven Mislintat umarmte ihn nach der Partie innig, verwies auf die Unschuldsvermutung und betonte – ebenso wie Trainer Pellegrino Matarazzo – wie wichtig Karazor für den Verein sei.

Im September vergangenen Jahres hatte es ein Gericht als erwiesen angesehen, dass Boateng 2018 seiner damaligen Lebensgefährtin Sherin S. ins Gesicht geschlagen hat. Das Gericht verhängte eine Geldstrafe von insgesamt 1,8 Millionen Euro. Der Prozess geht aktuell jedoch weiter, weil Boateng erfolgreich Berufung eingelegt hat. Konsequenzen hatte der Prozess und die Entscheidung des Münchner Amtsgerichts für den ehemaligen Bayern-Star bislang nicht: Der Innenverteidiger kam in der vergangenen Saison in 27 Spielen für seinen Verein Olympique Lyon zum Einsatz.

Vorwürfe der häuslichen und sexuellen Gewalt betreffen bei Weitem nicht nur deutsche Fußballer. Auch Benjamin Mendy, Profi von Manchester City, wird Vergewaltigung in acht Fällen sowie versuchte Vergewaltigung und sexuelle Belästigung vorgeworfen. Er muss sich deswegen aktuell vor Gericht verantworten. Mendy soll mithilfe eines Komplizen, des ehemaligen Profis Louis Saha Matturie, junge Frauen in sein Anwesen gelockt haben – darunter eine Minderjährige. Besonders viel Aufmerksamkeit erlangte auch der Missbrauchsvorwurf gegen Cristiano Ronaldo: Ex-Model Kathryn Mayorga warf dem Weltstar vor vier Jahren vor, er habe sie 2009 in einem Hotel in Las Vegas vergewaltigt.

Cristiano Ronaldo zahlt an Ex-Model Kathryn Mayorga

2010 einigten sich die beiden Parteien auf eine Zahlung von knapp 325.000 Euro an Mayorga, was für Ronaldo mit seinem damaligen geschätzten Jahresgehalt von 12 Millionen Euro kaum nennenswert gewesen sein dürfte. Im Gegenzug soll Mayorga eine Verschwiegensheitserklärung unterzeichnet haben, doch acht Jahre später bezeichnete sie die Summe als eine Art Schweigegeld und klagte. Im Juni lehnte ein US-Gericht die Klage jedoch ab, weil Mayorgas Anwälte auf „gehackte, vertrauliche Dokumente“ zugegriffen habe, die nicht hätten verwendet werden dürfen. Und damit ist der Fall für Ronaldo wohl vom Tisch, obwohl er alles andere als geklärt ist.

Frauen mit Verschwiegenheitserklärungen zum Schweigen zu bringen, scheint im Profifußball ein System zu sein. Das Recherchebüro „Correctiv“ deckte zusammen mit der „Süddeutschen Zeitung“ Fälle auf, in denen ehemalige Freundinnen und Frauen von Profifußballern über körperliche, psychische und ökonomische Gewalt in ihren Beziehungen sprechen und teilweise von ihren Ex-Männern dazu gedrängt wurden, Verträge zu unterzeichnen, mit denen die Gewalt gegen sie weggeschwiegen werden sollte. In ihrem Artikel berichten sie unter anderem über ein Gespräch zwischen Boatengs Ex-Freundin Katarzyna Lenhardt, genannt Kasia – mit der er nach seiner Beziehung mit Sherin S. zusammen war – und einem Bekannten: „Die wollten mich fertig machen und haben recherchiert und etwas gefunden, dann hat er seine Verschwiegenheitserklärung bekommen und wusste, ich kann eh nichts sagen“, wird Kasia zitiert. 2021 wurde sie tot in der gemeinsamen Wohnung aufgefunden. Sie starb offenbar durch Suizid.

Aussage gegen Aussage: Straftaten sind schwierig nachzuweisen

In allen geschilderten Fällen steht Aussage gegen Aussage, die betroffenen Fußballer bestreiten die Vorwürfe. Somit ist es unklar, ob sie diese Straftaten wirklich verübt haben. Das sei ein grundsätzliches Problem bei häuslicher und sexueller Gewalt, betont die Psychologieprofessorin Deborah Felicitas Hellmann von der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen. „Selbst mit gesicherten Beweisen ist es immer noch schwierig, solche Straftaten nachzuweisen“, sagt sie. Bei einer Vergewaltigung sage die beschuldigte Person etwa häufig, dass der Geschlechtsverkehr einvernehmlich gewesen war. Und das Gegenteil sei oft nicht nachweisbar.

Doch allein die Zahl an Vorwürfen gegen Profifußballer in den vergangenen Monaten und Jahren wirft eine Frage auf: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Tätigkeit und Straftaten wie sexuelle oder häusliche Gewalt? Zu dieser Frage mangelt es noch an Daten, wie das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) auf Nachfrage erklärt. Doch grundsätzlich gilt laut Hellmann, dass sich solche Straftaten nicht auf bestimmte Bevölkerungsgruppen beschränken. „Häusliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen sind gesamtgesellschaftliche Probleme, die alle sozialen Schichten betreffen – unabhängig vom sozialen oder finanziellen Status“, sagt die Expertin, die das KFN zu Fragen der Gewaltforschung berät.

Großes Dunkelfeld bei häuslicher und sexueller Gewalt

Auch die Gründe würden sich nicht in Abhängigkeit vom sozialen Status unterscheiden. „Die Ursachen haben häufig etwas mit der Erziehung in der Kindheit und der Sozialisation zu tun. Wer beispielsweise als Kind nicht lernt, Regeln und Normen zu akzeptieren, ist unter Umständen auch im Erwachsenenalter anfälliger dafür, Grenzen zu überschreiten und übergriffig zu werden“, sagt Hellmann. Denn dann sei schon in der Kindheit vermittelt worden, dass man sich nicht für die Bedürfnisse anderer zu interessieren brauche. Eine andere Ursache sei, dass manche Männer in einer Beziehung ihre eigenen Machtansprüche bedroht sähen und diese mit allen Mitteln wiederherstellen wollen würden – beispielsweise, indem sie handgreiflich werden. „Dies spiegelt auch wider, welche geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in der Gesellschaft herrschen“, betont Hellmann.

Doch wenn Fußballern Vergewaltigung oder Missbrauch vorgeworfen werden, bekämen diese Fälle besonders viel öffentliche und mediale Aufmerksamkeit. „Dadurch kann der Eindruck entstehen, dass solche Straftaten unter Fußballern häufiger vorkommen – doch dazu gibt es keine systematischen Untersuchungen“, sagt Hellmann.

Auch grundsätzlich besteht laut der Expertin bei häuslicher und sexueller Gewalt noch immer ein großes Dunkelfeld. Sprich: Viele der Taten werden gar nicht erst zur Anzeige gebracht. Zwar sei die Anzeigequote insgesamt etwas gestiegen, wozu Bewegungen wie Me Too oder Diskussionen um Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche beigetragen hätten. Dennoch würden diese Fälle noch immer selten der Polizei oder den Strafverfolgungsbehörden gemeldet.

Ob eine Frau Anzeige erstattet, hängt dabei von verschiedenen Faktoren ab. „Wenn Frauen die Möglichkeit haben, finanziell unabhängig von ihren Partnern zu sein, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie eine gewalttätige Beziehung verlassen und Straftaten anzeigen“, sagt Hellmann. Viele betroffene Frauen haben auch Angst davor, eine Anzeige zu erstatten, weil sie negative Konsequenzen befürchten.

Fans verteidigen die beschuldigten Spieler – und greifen die Frauen an

Die Frauen, die die Vorwürfe gegen die Fußballspieler erhoben haben, bekommen die Folgen vor allem in den sozialen Netzwerken zu spüren: Wenn sich Schlagzeilen zu den Vorwürfen verbreiten, nehmen viele Fans die Spieler in den Kommentarspalten in Schutz und werfen den Frauen vor zu lügen. „Da braucht eine dringend Geld“, schreibt einer im Fall von Nico Schulz auf Instagram. Andere Nutzer greifen die Frauen dagegen mit Beleidigungen an: „Alles Lügen diese Schl***** die nur Aufmerksamkeit und Geld wollen“, heißt es in einem Kommentar zu den Vorwürfen gegen Benjamin Mendy. Und wenn sich Frauen gegen die Aussagen der Fans äußern, werden auch sie mit sexistischen Kommentaren attackiert: „Was machst du auf einer Fußballseite? Geh mal kochen, habe Hunger“, schreibt ein weiterer Nutzer.

Ihre männlichen Vorbilder seien unschuldig, die Frauen nichts mehr als Lügnerinnen – diese Ansichten sind häufig in den sozialen Netzwerken anzutreffen, wenn Frauen prominenten Männern häusliche oder sexuelle Gewalt vorwerfen. Ähnliches war im Prozess von Johnny Depp und Amber Heard zu beobachten. Indem sie die betroffenen Frauen verbal attackieren, wollten die männlichen Fußballfans die Männerdomäne Fußball verteidigen, sagt Anna-Lena von Hodenberg, Geschäftsführerin der Beratungsstelle für digitale Gewalt „Hateaid“. „Diese Identifikation der Fans mit ihren Spielern ist im Fußball ganz stark ausgeprägt. Wenn ihre Idole infrage gestellt werden – etwa durch diese Vorwürfe der Frauen – dann werten sie die betroffenen Frauen mit Hasskommentaren ab, um sich selbst und den Fußball als Männerdomäne aufzuwerten“, betont sie.

Der Hass gegen die betroffenen Frauen kann für sie eine „traumatische psychische Gewalterfahrung“ sein – und Opfer solcher Straftaten „davon abhalten, über häusliche und sexuelle Gewalt zu reden“, so von Hodenberg. Auch Hellmann betont, dass die individuellen Kosten einer Anzeige hoch sind: „Gerade die Partnerinnen prominenter Männer sind Hasskommentaren ausgeliefert – und auch im Freundes- und Bekanntenkreis kann es sein, dass sich Menschen von den Betroffenen abwenden, weil sie ihnen nicht glauben.“

Häusliche und sexuelle Gewalt: Häufigkeit der Falschbeschuldigungen unbekannt

Wenn Frauen Männer der häuslichen oder sexuellen Gewalt beschuldigen, scheint es einen gesellschaftlichen Reflex zu geben, die Anschuldigungen infrage zu stellen. Wie oft es sich bei Vorwürfen der häuslichen und sexuellen Gewalt um Falschbeschuldigungen handelt, lässt sich aktuell jedoch nicht klären. „Auch bei der Häufigkeit von Falschbeschuldigungen besteht vermutlich ein großes Dunkelfeld. Bislang gibt es Deutschland hierzu keine aktuellen und aussagekräftigen Studien“, sagt Hellmann. Je nach Studie variiert der Anteil der ermittelten Falschbeschuldigungen an angezeigten Vergewaltigungen zwischen 3 und 8 Prozent. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass die vorhandenen Studien größtenteils älter sind und sich die Zahlen lediglich auf das Hellfeld beziehen – also Fälle, die der Polizei oder den Strafverfolgungsbehörden bekannt sind.

Viele der Fälle von häuslicher und sexueller Gewalt werden wohl nie abschließend geklärt werden. Das ist auch bei vielen Vorwürfen nicht anders, die professionelle Fußballer betreffen. Um mehr über das Ausmaß solcher Straftaten herauszufinden – und gleichzeitig die Frage zu beantworten, ob gewisse Personengruppen sie öfter verüben als andere – ist man auf verlässlichere Daten angewiesen, die mehr als das Hellfeld betrachten. „In Deutschland bräuchten wir idealerweise eine systematische Forschung zu häuslicher und sexueller Gewalt gegen Frauen, in der jedes zweite Jahr eine große Stichprobe repräsentativ ausgewählt und befragt wird“, sagt Hellmann.

Haben Vorwürfe der Gewalt gegen Frauen überhaupt Konsequenzen für Profisportler?

Eine ebenso dringende Forschungsfrage ist, wie eine wirkungsvolle Prävention von häuslicher und sexueller Gewalt gegen Frauen erreicht werden kann. Der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland betont auf seiner Website etwa, dass eine Sensibilisierung und Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten, Polizei und Justiz wichtig sei – und es betroffenen Frauen helfen könne, wenn sie gezielt über Beratungs- und Unterstützungssysteme informiert würden. Ob es hilft, wenn sich betroffene Frauen öffentlich äußern, ist jedoch noch größtenteils unklar. Auch die Frage, wie sich die Reaktion der Fußballvereine auf die Beschuldigungen gegen ihre Spieler auf die Prävention auswirkt, bleibt noch offen: Kann es helfen, wenn Vereine Spieler, die sich vor Gericht verantworten müssen, suspendieren – so, wie es beispielsweise bei Benjamin Mendy der Fall war? Und senden Vereine das falsche Signal, wenn sie Spieler trotz laufender Ermittlungen einfach weiterspielen lassen?

Im American Football scheint es der Karriere der Spieler zumindest nur wenig zu schaden, wenn sie wegen des Verdachts auf Gewalt gegen Frauen festgenommen werden. Britische Forschende haben in einer im Mai veröffentlichten Studie 117 Karriereverläufe entsprechender Spieler zwischen 2000 und 2019 untersucht und festgestellt: Erst seit 2009 verkürzt sich eine Karriere nach Vorwürfen von Gewalttaten gegenüber Frauen – doch das betraf nur die leistungsschwächeren und weniger wertvollen Spieler in der Stichprobe (25 Prozent), die Karrierelaufzeit der Leistungsträger blieb unbeeinträchtigt. Da die Zahl der untersuchten verurteilten Sportler jedoch gering ist und sich auf Football beschränkt, lässt sich jedoch keine allgemeine Aussage über Profispieler anderer Sportarten treffen.

Die großen Forschungslücken erschweren es, das tatsächliche Ausmaß von Gewalttaten gegen Frauen zu beleuchten. Damit das Problem erfolgreich angegangen werden kann, muss sich laut von Hodenberg auch gesellschaftlich der Umgang mit Frauen ändern, die mit diesen Vorwürfen in die Öffentlichkeit treten oder Straftaten zur Anzeige bringen. „Solange sich so viele Menschen ein Urteil bilden, bevor eines dazu ausgesprochen wurde und versuchen, Frauen mit Hasskommentaren still zu kriegen, fehlt es in unserer Gesellschaft an Solidarität mit den Opfern solcher Straftaten“, sagt von Hodenberg.

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