KommentarImpfstoffpatente bald frei? – Das verwirrend gute Amerika

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Joe Biden 060521

US-Präsident Joe Biden

  • In der Corona-Pandemie schlägt sich die US-Regierung überraschend auf die Seite ärmerer Länder und vieler Hilfsorganisationen.
  • Sie will, dass Pharmafirmen vorübergehend den Patentschutz auf ihre Corona-Impfstoffe verlieren.
  • Ein Kommentar

Der Tweet kam am Nachmittag US-Ostküstenzeit. Die meisten Europäer waren gerade schon dabei, sich zur Nachtruhe zu begeben. „Außergewöhnliche Zeiten verlangen außergewöhnliche Maßnahmen“, schrieb US-Botschafterin Katherine Tai, die von Joe Biden zur Handelsbeauftragten der USA ernannt worden war. Deshalb unterstützten die USA jetzt bei den anstehenden Verhandlungen in der Welthandelsorganisation die Aussetzung des Patentschutzes bei Covid-19-Impfstoffen.

Alles daran ist sensationell.

In Washington erschien eine solche Entscheidung als unwahrscheinlich, nachdem die amerikanische Pharmabranche sich beinhart gegen diesen Schritt gewehrt hatte. Der neue US-Präsident Joe Biden aber brachte es nicht nur fertig, sich über „Big Pharma“ hinwegzusetzen. Er änderte auch, ganz locker, seinen eigenen bisherigen Kurs.

Anfangs agierten die USA absolut egozentrisch, im Gegensatz zur EU. Kanada etwa bekam auch in den ersten Monaten der Biden-Präsidentschaft nur Impfstoff aus Europa, nicht aber von seinem Nachbarn.

Die Europäer stehen bekleckert da

Mit Bidens neuem Dreh indessen positionieren sich die USA grundlegend neu. Aus dem Weltmeister der Selbstversorgung wird über Nacht der Weltmeister der globalen Hilfsbereitschaft. Wenn es dazu Fragen gibt, können die Amerikaner mit hemdsärmligen Pragmatismus kontern: Das eine hat das andere möglich gemacht.

Die Europäer stehen jetzt bekleckert da – auch wenn EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sich beeilte zu erklären, auch sie sei bereit, über eine Aufhebung des Patentschutzes zu reden.

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Zur Wahrheit gehört allerdings, dass allein mit der Aufhebung des Patentschutzes noch keine Produktion zusätzlicher Impfstoffe garantiert ist. Da bedarf es weiterer, nicht zuletzt technischer Hilfen. Zugleich müssen USA und EU darauf achten, die „intellectual property rights“ nicht zur billigen Münze im großen globalen Spiel zu machen. Das Thema bleibt wichtig, vor allem mit Blick auf China.

Es geht um eine Ausnahme, nicht mehr und nicht weniger. Gerade jene, die den Aufstieg Chinas zur global einflussreichsten Macht bremsen wollen, sollten offen sein dafür. Ein gutes Zusammenwirken von USA, EU und Entwicklungsländern beim Impfen hat auch eine positive geopolitische Bedeutung.

Erst Nationalismus, dann Idealismus

Staunend blickt Europa jetzt auf die USA. Eben noch herrschte in Washington ein Nationalismus der dumpfesten Sorte. Jetzt schwingt sich das gleiche Land allen Ernstes auf zum Vorreiter der einen Welt? Kann das denn überhaupt sein?

Es ist so. Biden will als 78-Jähriger gute Dinge jetzt tun und nicht irgendwann. Und er ist nicht allein. Quer durch seine Administration hat er Leute installiert, die allen Ernstes die Welt verbessern möchten. Die Idealistin Samantha Power zum Beispiel gehört dazu. Für Barack Obama arbeitete sie als US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Biden machte sie zur Chefin der Entwicklungshilfeagentur US Aid.

Power lobte die jetzt angepeilte Aussetzung des Patentschutzes als „mutigen und richtigen Schritt“. Damit ist auch klar, auf welcher Seite sie in den zurückliegenden Tagen in den regierungsinternen Debatten gestanden hat.

Laschet, Lauterbach, Langeoog In europäischen Hauptstädten, das ist das Bedrückende, wurde dieser Streit kaum geführt. In Deutschland tastet sich die Regierung ohnehin visionslos durch die Krise, immer mit dem Blick auf die eigenen Fußspitzen. Die Regierten sind nicht besser, ihnen genügt die tägliche nationale Nabelschau, verbunden mit der unendlichen Debatte um den nächsten eigenen Urlaub: Laschet, Lauterbach, Langeoog.

Wer in dieser Welt aber nimmt den Kopf hoch und denkt nicht nur über das eigene Leben und das eigene Land nach? Und wer hat, Hand aufs Herz, wirklich jemals den Satz sacken lassen, dass die Pandemie nicht vorbei ist, solange sie nicht für alle Menschen vorbei ist?

Die Europäer haben vier Jahre lang darüber geklagt, dass Donald Trump sie immer mal wieder angerempelt hat. Nun werden sie erneut angerempelt – auf ganz andere Art: von einem verwirrend guten Amerika.

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