Nahverkehr auf dem LandIn Templin gibt es seit 25 Jahren das 44-Euro-Jahresticket

Lesezeit 5 Minuten
Neuer Inhalt (1)

Wie günstiger Nahverkehr auf dem Lad funktionieren kann, dafür ist Templin mit einem 44-Euro-Jahrestickt ein beispielhaftes Vorbild. (Symbolbild)

Templin – Christian Lindner soll einfach mal nach Templin kommen, sagt Detlef Tabbert. Dann würde der Bundesfinanzminister vielleicht seine Meinung über günstige Nahverkehrstickets ändern. „Lindner hat keine Ahnung, wir laden ihn gerne ein, sich einmal Templin anzugucken“, sagt der Bürgermeister der 16.000-Einwohner-Stadt in der Uckermark über den FDP-Chef. Lindner hatte alle Nachfolgemodelle für das 9-Euro-Ticket mit folgendem Argument abgelehnt: „Die Menschen auf dem Land, die keinen Bahnhof in der Nähe haben und auf das Auto angewiesen sind, würden den günstigen Nahverkehr subventionieren. Das halte ich für nicht fair.“

Viel ländlicher als Templin geht es in Deutschland nicht. Die Heimatstadt von Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel (man sieht die Ehrenbürgerin hier jetzt ab und an wieder beim Einkaufen) ist der Fläche nach die achtgrößte Stadt Deutschlands. Wälder. Seen, 15 Ortsteile und ein Kleinstadtkern. Und 200.000 Fahrgäste pro Jahr in den Bussen der Stadt. Kommunen ähnlicher Größe haben vielleicht ein Zehntel so viele Nahverkehrsnutzer.

44-Euro-Jahresticket für das Stadtgebiet Templin

Aber die haben auch nicht das 44-Euro-Jahresticket fürs Stadtgebiet. Seit 25 Jahren profitieren die Templinerinnen und Templiner von einem erst kostenlosen, nun immerhin fahrscheinfreien Nahverkehr. „Jahreskurkarte“ ist der etwas irreführende Name für das Bus-Angebot der Urlauberstadt, schließlich ist sie nicht für Touristen, sondern für Einheimische gedacht.

Das Angebot ist so einfach wie nur irgend möglich: Eine übertragbare Plastikkarte, das ganze Jahr gültig, verschafft Zutritt zu allen Bussen im Stadtgebiet. Detlef Tabbert steigt am Stadtbahnhof ein, zeigt seine Karte, der Busfahrer begrüßt den Bürgermeister und registriert einen weiteren Fahrgast. Abgerechnet wird am Monatsende zwischen Verkehrsbetrieb und Stadt.

Die Niederflurbusse der Uckermärkischen Verkehrsgesellschaft verkehren werktags alle 20 Minuten. Die Haltestellen liegen nah beieinander, damit auch Senioren problemlos zum Bus kommen können. Kinderstimmen sagen die Haltestellen an – aufgenommen wurden die Ansagen in der städtischen Grundschule. Tabbert verweist stolz darauf: „Das Thema Nahverkehr liegt mir wirklich am Herzen“ sagt der Stadtchef.

Dieselbusse sollen durch Wasserstoff- und Elektrofahrzeuge ersetzt werden

Noch fahren Dieselbusse durch die Stadt, doch bald sollen sie durch Wasserstoff- und Elektrofahrzeuge ersetzt werden. Auch die Ausweitung des Verkehrs auf die Abendstunden soll kommen.

Der 61-jährige Finanzwirt Tabbert gehört der Linkspartei an. Zu ersterem passt, dass er der Kritik des Bundesfinanzministers am 9-Euro-Ticket in einem Punkt durchaus zustimmt. „Gratismentalität“, wie Lindner gesagt hat, lehnt auch Tabbert ab. In Templin haben sie leidvolle Erfahrungen damit. Als sie 1997 den Stadtverkehr völlig kostenlos machten, sprang die Zahl der Nutzer auf 600.000 pro Jahr. „Die Busse waren überfüllt, und vieles davon waren Spaßfahrten“, erinnert sich Tabbert. Jugendliche hätten bei schlechtem Wetter Bierkästen in den Bus gewuchtet und den Stadtverkehr zur Partylinie umfunktioniert. „Auch das 9-Euro-Ticket war zu billig“, meint Tabbert.

44 Euro pro Jahr für den Stadtverkehr, das sei eine bewusste Entscheidung, aber gleichzeitig ein sehr sozialer Tarif. „Es ermöglicht vielen Menschen viel mehr Teilhabe“, sagt Tabbert. Kürzlich beim Seniorenstammtisch habe ihm das eine ältere Dame berichtet: Einzelfahrkarten für den Bus würde sie sich mit ihrer schmalen Rente nicht leisten. aber mit dem Jahresticket sei sie nun viel mehr in der Stadt unterwegs.

Verkehr und Schadstoffbelastung in der Stadt nimmt ab

„Das Ticket bringt nur Vorteile“, bilanziert Tabbert. „Der Verkehr in der Stadt nimmt ab, die Schadstoffbelastung ebenfalls, die Busse sind besser ausgelastet.“ Im ländlichen Raum könne es nicht darum gehen, dass Menschen ihr Auto abschafften – aber sie könnten unnötige Fahrten vermeiden, Sprit und Geld sparen.

„Die Jahreskarte ist eine wunderbare Lösung“, sagt eine ältere Dame im Bus. „Ich habe zwar noch ein Auto, aber ich fühle mich nicht mehr sehr sicher hinter dem Steuer. Und so brauche ich es auch fast gar nicht mehr.“

Seit zwei Jahren sind nun auch die Templiner Ortsteile einbezogen. Der Verkehr aus den kleinen Dörfern habe seitdem um 40 Prozent zugenommen, sagt Tabbert.

Tabbert fordert nun auch bundesweit eine „schnelle und mutige“ Nachfolgelösung für das 9-Euro-Ticket. Denn wer von Templin etwa ins 80 Kilometer entfernte Berlin pendeln will, zahlt ab September wieder happige 170 Euro für die Monatskarte. Das ist kein Preis, für den jemand vom Auto umsteigt.

Jahreskarten anstatt Monatskarten für den öffentlichen Nahverkehr

„Wir dürfen das Thema jetzt nicht totdiskutieren“, fordert Tabbert. „Wir brauchen ein langfristiges Angebot, das bis zum Jahresende stehen muss und dann mindestens zwei Jahre läuft. In der Zeit kann man es auswerten und nachsteuern.“ 

Mit Monatskarten solle man sich gar nicht erst aufhalten, meint Tabbert nach den Templiner Erfahrungen. Seine Idee: 199 Euro für den Verkehrsverbund (in Berlin und Brandenburg wären das schon das ganze Gebiet beider Bundesländer), 365 Euro für den bundesweiten Nahverkehr und vielleicht als dritten Schritt sogar ein Klimaticket für den Fernverkehr für 599 Euro.

Das könnte Sie auch interessieren:

Das klingt beileibe nicht nach Gratismentalität, liegt aber im Preis noch deutlich unter dem Vorschlag der Grünen, die 29 Euro monatlich für Regionaltickets und 49 Euro monatlich für den bundesweiten Nahverkehr ins Spiel bringen.

Und es sind Preise, die für einen Templiner Berlin-Pendler einen wirklichen Unterschied machen. „Es entlastet die arbeitende Mitte um mehrere Tausend Euro“, rechnet der studierte Finanzwirt Tabbert vor. „Es vermeidet viele tägliche Autofahrten und verhindert Pendler-Staus in den Großstädten.“ Unfair, meint der Templiner Bürgermeister, ist daran nun wirklich nichts.

KStA abonnieren