Putins heiliger KriegerWer ist das russische Kirchenoberhaupt Patriarch Kirill I.?

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Der Patriarch Kirill, das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche.

Der Kriegspräsident steht da wie ein Kommunionskind. Mit Kerze in der Hand und Engelsblick schaut Wladimir Putin auf zum Patriarchen Kirill I. Es ist die Nacht des orthodoxen Osterfestes 2022, und das russische Staatsoberhaupt schenkt dem russischen Kirchenoberhaupt in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale ein verziertes Osterei. Ganz so, wie es die Tradition will.

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Der Patriarch Kirill, das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, lässt Tauben im Rahmen einer Zeremonie am Tag vor Ostersonntag in der Russisch-Orthodoxen Kirche fliegen.

In derselben Nacht bangen orthodoxe Christen in ukrainischen Schutzkellern um ihr Leben. Der Krieg, von Russland ins Land getragen, macht keine Pause. Pflichtschuldig spricht Kirill von einem Blutvergießen, das hoffentlich bald ende. Putin sagt kein Wort dazu. Stattdessen würdigt er den Patriarchen, der mit der „fruchtbaren Zusammenarbeit von Staat und Kirche“ einen „riesigen Beitrag“ für die Durchsetzung traditioneller Werte in der Gesellschaft leiste.

Vor allem aber leistet Kirill I. einen „riesigen Beitrag“ zur Durchsetzung der Werte dieses Präsidenten. Schon lange. Seite an Seite für die Ideologie der „russischen Welt“. Seite an Seite im Kampf um Herzen und Hirne der Russinnen und Russen.

Ein Kirchenmann für den Frieden?

Nicht Kirill, nicht die oberste geistliche Autorität von rund 100 Millionen orthodoxen Christinnen und Christen in Russland. Kirill ist eine Macht. Der Patriarch lässt keinen Zweifel daran, dass er die russische Invasion in der Ukraine für richtig hält. In einer Predigt am 6. März versicherte der Geistliche den Gläubigen, Putin wolle die ukrainischen Brüder und Schwestern vor den „Kräften des Bösen“ und vor Homosexuellenparaden schützen.

Die wahren Verursacher des Krieges seien „der Westen“ und die Nato. So schrieb er es in einem Brief an den Ökumenischen Rat der Kirchen. Der Konflikt sei Teil einer „groß angelegten geopolitischen Strategie“ zur Schwächung Russlands, schrieb Kirill an den Generalsekretär des Rates, Ion Sauca. Der hatte ihn gebeten, seine Stimme zu erheben, um den Krieg in der Ukraine zu stoppen. Am 3. April feierte der Patriarch, der gern auch Waffen segnen lässt, dann eine Liturgie in der Militärkirche bei Moskau.

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Kirill befindet sich schon lange im Kriegszustand mit der Ukraine, erklärt der Kirchenhistoriker Mihai Grigore vom Mainzer Leibniz-Institut für europäische Geschichte. Spätestens seit 2019, als der Ökumenische Patriarch von Konstantinopel – seit dem siebten Jahrhundert als Primus inter Pares Kirchenoberhaupt in der orthodoxen Gemeinschaft – die orthodoxe Kirche der Ukraine für eigenständig erklärt hat.

Die orthodoxen Kirchen sind mit rund 300 Millionen Mitgliedern weltweit nach der römisch-katholischen die zweitgrößte christliche Konfession. Die russische mit rund 150 Millionen Mitgliedern weltweit ist die größte in dieser Gemeinschaft und beansprucht deshalb eine Vormachtstellung. Die sieht Kirill durch die Ukraine gefährdet.

Verflochten wie zur Zarenzeit

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion spalteten sich dort zahlreiche orthodoxe Gemeinden von der ukrainisch-orthodoxen Kirche ab, die dem Moskauer Patriarchat unterstand. Sie nannten sich nun ukrainisch-orthodoxe Kirche Kiewer Patriarchat. Heute zählen sich rund 45 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer dazu. Das sind rund 40 Millionen abtrünnige Gläubige.

Ein Affront für Putins heiligen Unterstützer. Und ein Spiegelbild dessen, was Putin als die große Verletzung durch die Ukrainer empfindet: die Abkehr von Russland – oder besser die Abkehr von der Vorherrschaft des Kremls.

„Staat und Kirche“, sagt Grigore, „verfolgen in Russland dieselben Interessen. Eine derartige Verflechtung hat es dort zuletzt in der Zarenzeit gegeben.“ Gemeinsam verfolgen Putin und Kirill, jeder aus seinem Grund, seit 2007 das neoimperiale Projekt „Russkij Mir“ (russische Welt). Es ist jedoch ein politisches Konzept – das unter anderem die Ukraine ideologisch als zentralen Bestandteil einer von Russland geführten „russischen Welt“ vorsieht.

So hat es Kirill unlängst unmissverständlich formuliert: Die Ukraine gehört zum „heiligen Rus“. Putins Sieg in der Ukraine wäre also auch seiner. Der 75-jährige Kirill und der sechs Jahre jüngere Putin, das sind zwei ziemlich beste Freunde, die sich mehrmals gehäutet haben, sich wechselseitig beistehen und deren Wege sich ähneln. Beide stammen aus Leningrad, dem heutigen St. Petersburg. Beide waren Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes KGB und beide machten sowohl in der Sowjetzeit als auch in der postsowjetischen Ära rasch Karriere.

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Der russische Präsident Wladimir Putin (l) und der Vorsteher der Russischen-Orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill I.

1988 wurde Kirill, Putin war zu dieser Zeit noch KGB-Offizier in Dresden, zum Erzbischof geweiht. In die Zeit 1979 bis 1989 fiel der sowjetische Krieg in Afghanistan. Interessant aus heutiger Sicht: Als damaliger Bischof von Smolensk sprach sich Kirill als einsamer Rufer gegen die Invasion aus. Dennoch wurde er 1989 Vorsitzender der Abteilung für externe Kirchenbeziehungen des Moskauer Patriarchats und damit „Außenminister“ der russisch-orthodoxen Kirche.

Gegen westliche Beliebigkeit

In diesen Jahren nähern sich die Wege der beiden Leningrader wieder an. Putin begann 1991 in seiner Heimatstadt seine politische Karriere als Leiter des städtischen Komitees für Außenbeziehungen und wurde 2000 zum ersten Mal Präsident der Russischen Föderation.

Im Jahrzehnt des Umbruchs wuchs auch Kirills Einfluss als ständiges Mitglied des Heiligen Synod der russisch-orthodoxen Kirche sowie als Mitglied der Biblischen und Theologischen Kommission des Moskauer Patriarchats. 2000 gehörte der Metropolit zu den Hauptautoren der Soziallehre der russisch-orthodoxen Kirche. Schon damals prangerte er die „Beliebigkeit“ westlicher Gesellschaften an, deren teuflischster Ausdruck Homosexualität und Abtreibung seien.

Kirill hatte zuvor sein Chance genutzt, als Patriarch Alexius II. 1993 das „Weltkonzil des russischen Volkes“ gründete – mit dem Ziel, dieses Volk zu vereinen. Fortan saßen Vertreter der Regierung, von Verbänden, Religionen, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sowie Delegierte der Diaspora erstmals an einem Tisch. Die Leitung hatte Kirill.

Kirche wichtige Stütze von Putins Macht

Hier begann die Verzahnung von Kirche und Staat, die Putin beim Osterfest so pries. Die Kirche ist neben dem Militär eine der wichtigsten Stützen seiner Macht. „In unserer nicht einfachen Zeit kümmert sie sich um die Festigung des Konsenses und der Verständigung zwischen den Menschen“, so die Osterbotschaft des Präsidenten.

Als Alexius II. starb, wurde Kirill 2009 der 16. Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche. Putin war nach zwei Amtszeiten als Präsident zu dieser Zeit Ministerpräsident Russlands. Beide waren ganz oben.

Kirchliche und politische Vorstellungen wurden zunehmend deckungsgleich. Gelebte Pluralität und Diversität – sei es nun im politischen Wettstreit, im zwischenmenschlichen Zusammensein oder in Glaubensfragen – sind Kreml und Kirche ein Graus.

Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass Kirill seinen Freund Putin 2012 nachdrücklich aufgefordert habe, die Staatsorgane wegen des provokanten Auftritts der Frauenpunkband Pussy Riot in der Erlöserkirche („Punkgebet“ gegen die Allianz von Kirche und Staat) in Gang zu setzen. Ergebnis: Drei Künstlerinnen wurden zu jeweils zwei Jahren Haft verurteilt.

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Der Orthodoxe Patriarch Kirill (2.v.l), Gerhard Schröder (M), ehemaliger deutscher Bundeskanzler, und Dimitri Medwedew (r), Ministerpräsident von Russland, nehmen an der Amtseinführung des russischen Präsidenten Putin im Kreml teil.

Und die Haltung des Patriarchen von Moskau wurde kriegerischer. 2014 verzichtete er zwar auf eine Reaktion zur Annexion der Krim, sprach jedoch von Putins „Selbstaufopferung“ und dass der Präsident „integraler Teil der vaterländischen Geschichte“ sei. Vor der Wahl 2012 hatte Kirill mit der Bemerkung, Putins erneute Präsidentschaft wäre ein „Wunder Gottes“, eine deutliche Wahlempfehlung abgegeben. So deutlich, wie er sich jetzt gegen die Ukraine positioniert.

Der Patriarch als Apparatschik

Kirchenexperte Grigore hält die orthodoxe Kirche in Russland zwar für so potent, dass sie den Verlauf des Krieges beeinflussen könne. Doch der Patriarch, den der Wissenschaftler als „Staatsapparatschik“ bezeichnet, wolle das gar nicht.

„Er schielt auf die 40 Millionen Kirchenmitglieder, die ihm in der Ukraine durch die Eigenständigkeit verloren gegangen sind. Er will sie zurück, deshalb geht er mit Putin Hand in Hand.“ Kirill glaube nicht an Frieden, meint Grigore. „Frieden gefährdet Kirills Machtstreben.“

Dabei ist er schon mächtig. Kirill redet bei Unterrichtsplänen für Schulen mit, das Moskauer Patriarchat sitzt in staatlichen Gremien und ist vertraglich mit verschiedenen Ministerien verbunden. Inzwischen verfügt die Kirche auch über einen stattlichen Immobilienbesitz, geschenkt vom Staat.

„Dialog ist mit ihm derzeit unmöglich“

Wie die Russinnen und Russen das Agieren ihrer Kirche sehen, ist schwer abschätzbar. 2008 bekannten sich 72 Prozent der Bevölkerung zur russisch-orthodoxen Kirche, doch besuchten nur 7 Prozent mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst. Dennoch: Mit der Kirche Kirills ist zu rechnen. Zwar gibt es auch innerkirchlichen Widerstand gegen den Kriegskurs des Patriarchen.

„Das Jüngste Gericht erwartet jeden Menschen. Keine irdische Macht, kein Arzt und keine Leibwache wird vor diesem Gericht bewahren“, heißt es etwa in einem von mehr als 250 Priestern und Mönchen unterzeichneten Brief an Seine Heiligkeit. Doch das wird ihn nicht erreichen, meint Kirchenexperte Grigore. „Dialog ist mit ihm derzeit unmöglich.“

Selbst eine militärische Niederlage, die das Ende seines Bruders im Geiste im Kreml besiegeln dürfte, wird Kirill nichts anhaben, vermutet der Mainzer Forscher. „Kirill überlebt auch einen Machtwechsel in Moskau. Denn niemand legt sich mit der orthodoxen Kirche an.“ (rnd)

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