Zeiterfassung wird zur PflichtUrteil bringt flexible Arbeitsmodelle ins Wanken

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Ein Bürogebäude in Berlin

  • In einem Grundsatzurteil verpflichtet das Bundesarbeitsgericht Firmen zur Arbeitszeiterfassung
  • Hat sich die Vertrauensarbeitszeit erledigt? Kommt die Stechuhr zurück? Was bedeutet das für das Homeoffice?
  • Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick

Berlin – Arbeitszeiten müssen in Deutschland grundsätzlich und systematisch erfasst werden. Das hat das Bundesarbeitsgericht am Dienstag in einem Grundsatzurteil entschieden. Die Folgen werden laut Einschätzung von Fachleuten weitreichend sein. Unternehmen, Beschäftigte und Politik dürfte der Erfurter Richterspruch noch lange beschäftigen.

Was ist der Anlass des Urteils?

Geklagt hatte der Betriebsrat einer sozialen Einrichtung in Nordrhein-Westfalen. Die Betriebsräte wollten ein Initiativrecht für die Einführung eines elektronischen Systems zur Zeiterfassung erstreiten. Sie wollten vom Arbeitgeber verlangen können, eine digitale Stechuhr einzuführen.

Bislang hatten Betriebsräte in dieser Frage nur ein Abwehrrecht gehabt, wenn sie eine Überwachung durch den Arbeitgeber befürchteten. Der klagende Betriebsrat sorgt sich allerdings nicht vor der Überwachung, sondern vor der Überlastung der Beschäftigten.

Das Zeiterfassungssystem soll dabei helfen, Überstunden zu dokumentieren und einzudämmen.

Was hat das Bundesarbeitsgericht konkret entschieden?

Formell hat der Betriebsrat nicht Recht bekommen. Eine betriebliche Mitbestimmung oder ein Initiativrecht für die Einführung digitaler Zeiterfassungssysteme sei ausgeschlossen, urteilte das höchste deutsche Arbeitsgericht.

Die Begründung der Ablehnung hat es allerdings in sich: Das Gericht hält ein Initiativrecht für überflüssig, da in Deutschland bereits eine gesetzliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung existiere.

Diese ergibt sich laut der Vorsitzenden Richterin aus der Auslegung des deutschen Arbeitsschutzgesetzes nach Maßgabe des sogenannten Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Die Richterinnen und Richter gehen damit über die eigentliche Forderung der Kläger hinaus.

Welche Folgen hat das Urteil?

Die Folgen dürften weitreichend sein, denn bislang mussten nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden, nicht aber die gesamte Arbeitszeit.

Arbeitsrechtsexperten sprechen von einer „faustdicken Überraschung“ und einem „Paukenschlag“. Bislang gelten in vielen Unternehmen und Behörden so genannte Vertrauensarbeitszeitmodelle, bei denen Beschäftigte ihre Arbeit zeitlich selbst organisieren und der Arbeitgeber ihnen in dieser Hinsicht vertraut.

Andersherum müssen auch die Beschäftigten darauf vertrauen, dass sich die an sie gestellten Erwartungen in der vorgegebenen Arbeitszeit erledigen lassen. Das Urteil könnte solche Arbeitszeitmodelle nun obsolet werden lassen.

Was kommt nun auf Unternehmen zu?

„Unternehmen, die keine Lösungen zur umfassenden Arbeitszeiterfassung anbieten, befinden sich nun in einem rechtswidrigen Zustand“, warnt der Münchner Arbeitsrechtler Michael Kalbfus im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Übergangsfristen für die Einführung digitaler Stechuhren gebe es keine. Er könne den Unternehmen nur empfehlen, schnell Lösungen zur Zeiterfassung in Angriff zu nehmen, auch wenn der Aufwand zum Teil erheblich sei, so Kalbfus weiter.

Außerdem rechnet der Experte der Wirtschaftskanzlei Noerr mit Rückschritten bei den zuletzt immer beliebter gewordenen flexiblen Arbeitsmodellen. Das Urteil gelte auch für Homeoffice und Telearbeit, sagt Kalbfus. „Mit der großen Flexibilität im Homeoffice dürfte es vorbei sein.“

Welche politischen Folgen hat das Urteil?

Die Bundesregierung wurde von dem Urteil kalt erwischt. Derzeit arbeitet sie noch daran, die Vorgaben des EuGH für eine verlässliche Arbeitszeiterfassung in deutsches Recht umzusetzen.

Über die Details gibt es auch innerhalb der Ampel-Koalition sowie zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern zum Teil erheblichen Streit. Im Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP zwar die Notwendigkeit einer Anpassung nach dem EuGH-Urteil festgestellt, sich aber gleichzeitig dazu bekannt, dass flexible Arbeitszeitmodelle wie Vertrauensarbeitszeit weiterhin möglich sein müssten.

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Die SPD und ihr Arbeitsminister Hubertus Heil hatten immer wieder auf strengere Vorgaben für die Zeiterfassung gedrängt, um Arbeitnehmer vor zu vielen Überstunden zu schützen. Die FDP hatte dagegen auf ein Höchstmaß an Flexibilität gepocht.

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