Ist bei Florian Wirtz alles so schlecht, wie es teilweise gemacht wird? Was Vater Hans Wirtz, Rudi Völler und Simon Rolfes dazu sagen.
Ein Genie und seine KritikerFlorian Wirtz bekommt viel Rückendeckung aus Deutschland

Noch auf der Suche nach der Bestform mit seinem Team: Florian Wirtz beim FC Liverpool.
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Elf Spiele, kein Tor, keine Vorlage. So liest sich die aktuelle Bilanz von Florian Wirtz bei seinem neuen Klub FC Liverpool in der Premier League. Die offensichtlichsten Kennzahlen eines Offensivspielers bieten reichlich Angriffsfläche. Es ist also wahrlich kein Wunder, dass sich seine Kritiker im Wochenrhythmus genüsslich auf diese Statistiken stürzen.
Seit dem vergangenen Wochenende hat der 22-Jährige ein wenig Pause von seiner neuen Heimat in der englischen Hafenstadt am Fluss Mersey. Mit der deutschen Nationalmannschaft will Wirtz in Luxemburg (Freitag, 20.45 Uhr, RTL) und in Leipzig gegen die Slowakei (Montag, 20.45 Uhr, ZDF) die Qualifikation zur Weltmeisterschaft im kommenden Jahr sicherstellen. Doch auch im Umkreis der DFB-Elf ebben die Diskussionen um seinen holprigen Start in England nicht ab. Im Gegensatz zu der sehr kritischen Bewertung in England erhält er aus Deutschland allerdings viel Rückendeckung.
„Wir müssen ihn da alle gemeinsam ein bisschen unterstützen und helfen, dass er seinen Kopf freikriegt“, hatte Bundestrainer Julian Nagelsmann zu Beginn der Woche gesagt. Wirtz habe „Schritte in die richtige Richtung getan, was seine Intensität angeht im Spiel“, betont der 38-Jährige: „Was er kann, wissen wir alle.“ Und auch Nationalmannschaftskollege Nick Woltemade, der mit vier Toren in acht Spielen bei Newcastle United einen zahlenmäßig besseren Start in der Premier League hingelegt hat, springt Wirtz bei: „Auf dem Papier sieht man vielleicht nicht die Tore, aber wenn man meine Spiele mit seinen vergleicht, ist er deutlich mehr im Spiel. Ich stehe wahrscheinlich drei- oder viermal richtig, bekomme den Ball und schieße ihn rein – er hingegen ist sehr aktiv im Spiel, hat viele Ballkontakte und gute Aktionen.“
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Harsche Kritik aus dem ManUnited-Lager
Einige englische Experten sehen das komplett anders. „Nennen wir es einfach beim Namen: Wirtz ist ein Problem“, hatte der 85-fache englische Nationalspieler Gary Neville am vergangenen Sonntag gesagt. Bei der ernüchternden Niederlage des Meisters bei Manchester City (0:3) habe Wirtz „wie ein kleiner Junge ausgesehen“. Auch Wayne Rooney oder Rio Ferdinand übten in den vergangenen Monaten teils harsche Kritik. Dass krtische Worte von drei Legenden von Manchester United stammen, dem Erzrivalen des FC Liverpool, lässt Interpretationsspielraum offen. „Die Kritik der Altinternationalen nehme ich nur am Rande wahr“, sagt Vater und Berater Hans Wirtz im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. „Florian ist ein junger Mann, der sich in einem neuen Umfeld beweisen möchte. Es ist weniger als ein Drittel der Saison gespielt. Bisher geht alles seinen erwarteten Verlauf, es ist ein ganz normaler Eingewöhnungsprozess, der völlig unabhängig von einer Ablösesumme ist. Und: Wenn man die Statistiken genauer betrachtet, erkennt man, dass Florians Werte bezogen auf die Einbindung ins Spielgeschehen schon ganz gut sind, nur Assists und Tore lassen noch auf sich warten.“
Rund 140 Millionen Euro vereinbarten die „Reds“ und Bayer 04 Leverkusen im Sommer als Ablösesumme. Nie wurde mehr für einen deutschen Spieler bezahlt. Die Mechanismen des Geschäfts sind in der Folge eindeutig geregelt: Je mehr Geld, desto höher die Erwartungen. Dass die Ablösesumme aber in keinem direkten Zusammenhang damit stehen kann, wie schnell sich ein Spieler in der neuen Heimat, bei einem neuen Klub, in einer neuen Liga akklimatisiert, ist für viele Betrachter unerheblich. „Das ist ja nicht unüblich in England, wo es viele Experten gibt, die sich prinzipiell dazu berufen fühlen, sehr deutliche Kritik an Spielern zu üben“, erklärt Rudi Völler im Gespräch mit dieser Zeitung. „Das gehört dort auch ein bisschen dazu. Davon lässt sich Florian aber nicht verrückt machen – wir erleben es gerade hier bei der Nationalmannschaft – weil er weiß, dass Vorlagen oder Tore nicht der einzige Qualitätsnachweis im Fußball sind. Seine läuferischen und spielerischen Fähigkeiten hat er auch in der Premier League schon oft nachgewiesen. Man verkennt momentan noch ein wenig Florians Einfluss auf das Spiel des FC Liverpool, der derzeit aber auch generell nicht das abliefert, was alle von dieser Topmannschaft erwarten. Doch das liegt definitiv nicht an einem einzelnen Spieler.“
Völlers Argumente können dabei auch mit Zahlen belegt werden. Kein Spieler in der Premier League läuft sich öfter frei als Florian Wirtz, er hat seinen Bestwert aus der Bundesliga sogar nochmal gesteigert. Der Unterschied ist aber, dass er deutlich seltener angespielt wird. Bei Bayer 04 war er der gesuchte Mann bei allen Angriffsbemühungen. Wenn Wirtz frei war, bekam er auch den Ball, in Liverpool gibt es viele Stars, die glänzen wollen. „Flo ist bei all seiner individuellen Klasse vor allem eines: ein totaler Mannschaftsspieler“, betont Bayers Sportgeschäftsführer Simon Rolfes. „Flo lebt von Kombinationsfußball, aber momentan hat sich Liverpool noch nicht so richtig als Team gefunden. Dann wird es auch für Flo schwieriger.“ Und dennoch hat Wirtz enormen Einfluss auf das Liverpooler Spiel. Torschussvorlagen und linienbrechende Pässe sind im Vergleich zur Bundesliga konstant geblieben. In der Champions League hat Wirtz zusammen mit Kylian Mbappé von Real Madrid an den ersten vier Spieltagen die meisten Chancen kreiert. Doch sowohl in der Liga als auch in der Königsklasse, wo er bereits zwei Tore aufgelegt hat, verwerten seine Mitspieler teils hochkarätige Chancen nicht.
Was zu einem der großen Probleme bei der Spurensuche nach Wirtz bisheriger Zeit in Merseyside führt: Der FC Liverpool steckt nach der Meisterschaft in einem großen Umbruch und einer sportlichen Krise. Nach elf Spieltagen ist der LFC nur Tabellenachter. Meister-Trainer Arne Slot hat es bisher nicht vermocht, die alten Tugenden mit seinem neuen Ansatz von einem etwas mehr ballbesitzorientierten Fußball, für den auch Wirtz stehen soll, zu verbinden. Liverpool hat im Sommer das teuerste Transferfenster der Fußballgeschichte hingelegt, hat mehr als 480 Millionen Euro ausgegeben. Rund 360 Millionen gingen dabei in die Wechsel von Wirtz, Alexander Isak (Newcastle) und Hugo Ekitiké (Eintracht Frankfurt). Drei neue Offensivkräfte, die sich mit Platzhirschen wie Mohamed Salah, Cody Gakpo oder Edelreservist Federico Chiesa um die Stammplätze streiten. Es gibt nicht wenige, die behaupten, Liverpool habe es mit den Transfers übertrieben, sich eine zu große Masse an Alphatieren geholt, die sich nun nur noch wie Ich-AGs auf dem Platz verhalten. Ein geradezu toxisches Klima für einen Teamplayer wie Florian Wirtz.
Hinzu kommt die große emotionale Belastung im und um den Verein durch den tragischen Unfalltod von Meisterspieler Diogo Jota im Sommer. Jotas Spind ist noch in der Kabine, sein Song wird von den Fans bei jedem Spiel gesungen. Die Nummer 20 des Portugiesen ist beim FC Liverpool omnipräsent. Ein ehrenvoller Umgang mit diesem Schicksal von einem Klub, der mehr als jeder andere für Menschlichkeit stehen will. Damit geht aber natürlich auch eine Art Belastung für alle Angestellten des Klubs einher. Wirtz selbst betont immer wieder, dass er sich noch in der Phase der Anpassung in Liverpool befinde. Das Tempo und die Physis in den Spielen in der englischen Premier League fordern mehr von ihm ab. Seine Stärke, Eins-gegen-Eins-Situationen mit geschmeidigen Dribblings aufzulösen, bekommt er noch nicht so auf den Platz wie in der Bundesliga. Zudem sind die Trainingstage in Liverpool zeitaufwendiger, auch weil die An- und Abfahrten vom Trainingsgelände in der nordöstlich von Liverpool gelegenen Stadt Kirkby deutlich länger dauern.

England-Legionäre im Training der DFB-Elf: Nick Woltemade und Florian Wirtz
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„Wir alle waren sehr gerne in Leverkusen. Wenn ich an der BayArena vorbeikomme, überkommt mich immer ein bisschen Wehmut“, sagt Hans Wirtz. „Aber das ist nur mein persönliches Gefühl. Florian hat bewusst einen Schritt gemacht, um ein noch besserer Fußballer zu werden. Und den bereut er in keiner Weise. Ihm geht es gut in Liverpool, er freut sich auf jedes Training, hat Anschluss gefunden in der Mannschaft. Wir sind zu 100 Prozent zufrieden, wie es bisher läuft.“ Nach dem Spiel bei Manchester City am vergangenen Wochenende fragten sich einige Wegbegleiter, ob Florian Wirtz nicht besser ins hellblaue denn ins rote Trikot gepasst hätte. Doch der gebürtige Pulheimer, der bis zum Sommer immer in Köln und Umgebung – zuletzt in einer Wohnung in Lindenthal – gewohnt hatte, wollte bewusst den Schritt nach Liverpool gehen. Bewusst nicht eine einfachere Lösung wie City oder den FC Bayern wählen, um sich als Fußballer bestmöglich weiterzuentwickeln.
Widerstände waren zu erwarten
Dass es nun zu Widerständen in den ersten Monaten kommt, überrascht niemanden aus seinem näheren Umfeld. „Florian wird seinen Weg gehen, da habe ich nicht die geringsten Zweifel“, betont Rudi Völler. „Er wird auch die Engländer noch begeistern, wenn er die ganz normale Anpassungsphase im Klub und in der Liga hinter sich gebracht hat. Es gibt keinen Grund für ihn, nicht an sich zu glauben. Er hat sich ganz bewusst für diesen großen Schritt in die Premier League entschieden. Das zeigt seinen Mut und sein Selbstvertrauen. Florian ist ein wunderbarer Spieler, das wird man bald auch in England so sehen.“
Rund um das kommende Wochenende will Wirtz aber erst einmal bei und mit der deutschen Nationalelf glänzen. Hans Wirtz: „Florian hat es immer als Ehre gesehen, in der Nationalmannschaft zu spielen. Daher freut er sich natürlich, jetzt auch wieder in diesem Umfeld zu sein.“ Und wenn es dann zurück auf die Insel geht, wo die Kritiker schon auf das nächste Spiel ohne Scorerpunkte warten, lebt Florian Wirtz wohl am besten nach seinem eigenen Motto: „Egal, was irgendwer sagt, ich bleibe cool.“


