VierschanzentourneeGranerud, der spektakuläre Aufsteiger

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Halvor Egner Granerud hat seine Skier geschultert und geht in Bischofshofen in Richtung Springerturm.

Halvor Egner Granerud vor der Qualifikation für Bischofshofen am Donnerstag.

Der Norweger Halvor Egner Granerud steht kurz vor dem Triumph bei der Vierschanzentournee. Dabei war er im März 2019 kurz davor, aufzugeben.

So viel Anstrengung, alles gegeben für das Skispringen und nun Platz 54 in der Qualifikation. Beim Interview unten im Auslauf der Großschanze von Oslo am Holmenkollen ist Halvor Egner Granerud, Teil des norwegischen B-Teams, an jenem 8. März 2019 mit den Nerven durch. Er weint fast, als er erklärt, dass er jetzt seine Skier am liebsten wegwerfen würde.

Dies war der Ausgangspunkt für eine erstaunliche Serie, die gerade in diesen Tagen in einen veritablen Flow mündete. Bei der Vierschanzentournee jedenfalls ist Granerud nach den Siegen in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen sowie Rang zwei in Innsbruck der große Springer-Star mit allerbesten Aussichten auf den Gesamtsieg. Wie ist so etwas möglich?

E-Mail an den Trainer

Zunächst einmal warf Granerud seine Skier nicht in die Ecke, allerdings schrieb er einigermaßen verzweifelt eine Mail an seinen Trainer Alexander Stöckl, mit der Bitte, dass der Coach ihm doch mal bitte alle seine Fehler auflisten möge. Auf dass er, Granerud, der Springer mit dem riesigen Willen, es doch endlich ins A-Team der Norweger schaffe. Stöckl, ein innovativer, psychologisch geschulter Sportlehrer aus Österreich, gab sich zusammen mit den Trainerkollegen und Graneruds Stützpunktleiter in Trondheim größte Mühe mit der Antwort: „Wir haben ihm aufgeschrieben, was er alles ändern und wie er arbeiten muss, um es nach oben zu schaffen. Das hat er sich sehr zu Herzen genommen und akribisch durchgezogen“, sagt Alexander Stöckl im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Ein Jahr brauchte Granerud noch, um das Gelesene umzusetzen, es ging da vor allem um die Athletik und eine aufzubauende Symmetrie beim Absprung – im Winter darauf war Granerud dann nicht nur im A-Team, sondern auch der beste Springer der Saison. Denn 2021 gewann er den Gesamt-Weltcup. Es ist dies eine der spektakulärsten Aufsteiger-Geschichten der Skisprung-Szene. Doch bei der Tournee und bei Großereignissen überhaupt klappte es bisher nicht.

Granerud präsentiert im Auslauf der Bergisel-Schanze von Innsbruck den Pokal, den er für Rang zwei erhielt.

Mann mit Pokal: Granerud nach Rang zwei in Innsbruck am Mittwoch.

Obwohl er im Training und in der Qualifikation stets überzeugend sprang, besser auf jeden Fall als im Wettkampf. „Da ist der Halvor von sich aus auf mich zugekommen und hat um Unterstützung seitens unseres Psychologen gebeten. Das war vor dem zweiten Springen in Engelberg in der Woche vor Weihnachten. Das haben wir ihm natürlich sofort ermöglicht.“ Eine Maßnahme, die punktgenau ein Ergebnis zeigte – Platz vier bereits am Sonntag in Engelberg.

Granerud und der Psychologe, ein Norweger, setzten die gemeinsame Arbeit bis zum Tourneebeginn fort – mit dem bekannten Erfolg. In Innsbruck zeigte Granerud zunächst einen durchschnittlichen Sprung. Er büßte eine Menge Punkte auf den ihn in der Tournee-Gesamtwertung verfolgenden Polen Dawid Kubacki ein. Und zeigte dann im finalen Durchgang einen Meistersprung auf 133 Meter, Tagesbestweite und am Ende doch noch Rang zwei, knapp hinter Kubacki. Die psychologische Unterstützung zeigte auch in diesem Moment eine Wirkung.

Granerud und sein Therapeut hatten sich eine andere, neue Herangehensweise an den Wettkampf erarbeitet. Um innere Ruhe wird es gegangen sein, eine Geste ist zudem seit Neuestem zu beobachten: Granerud streckt im Anlauf und im Flug seine Zunge heraus. Und als in Garmisch alles erneut perfekt aufging, bedankte sich Granerud mit einer Mediationsgeste im Yogasitz. Und obwohl Granerud derjenige Springer ist, der zwar alles gewinnen kann, nämlich als erster Norweger seit 16 Jahren die Tournee, ist er auch die Person, die gleichfalls alles verlieren könnte, durch einen schlechten Sprung am Freitag in Bischofshofen. „Ich glaube, der Halvor ist im Moment stark genug, alles auszublenden, was gerade um ihn herum los ist“, sagt Stöckl.

Halvor Egner Granerud: Fehlstellung der Hüfte

Wegen einer Hüftfehlstellung tendiert Granerud zu einem Rechtsdrall nach dem Absprung, weshalb er weit rechts landete. Stöckl hat seinem Athleten klargemacht, dass er in der Anfahrt daran arbeiten kann, beim Absprung ohnehin. Und wie reagierte Granerud? Er ließ Videos seines Anlaufs von allen denkbaren Seiten erstellen, um sie zu analysieren. Ergebnis: viel symmetrischerer Sprung und Rang eins in der Tournee-Wertung. In Bischofshofen lief es wieder bestens für Granerud: Die Qualifikation am Donnerstag gewann er vor Kubacki.

Auf das Finale am Freitag angesprochen, sagte er: „Ich bin gespannt, welche Gefühle mich nach dem letzten Sprung übermannen werden.“ Tendenz: Es dürfte eines sein, das mit Freude zu tun hat.

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