Dein Zuhause ist der Horror?Ein Kölner Online-Portal hilft Kindern aus belasteten Familien

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Auf einem schwarz-weiß gestalteten Plakat ist ein Kind zu sehen, dass eine Tür öffnet, darüber der Schriftzug: „Dein Zuhause ist der Horror? Hilfe bei Problemeltern. Seit 20 Jahren: www.kidkit.de“

Plakat von „Kidkit“, das ab September in Kölner Bussen und Bahnen zu sehen sein wird.

Das digitale Projekt „Kidkit“ startete als eines der ersten seiner Art vor 20 Jahren in Köln. Zum Jubiläum gibt's eine besondere Kampagne.  

Wer ab dem 1. September in Kölner Bahnen oder Bussen ein — auf den ersten Blick — düster anmutendes Plakat mit der Aufschrift „Dein Zuhause ist der Horror?“ erblickt, sollte nicht verschreckt weg-, sondern aufmerksam hinschauen.

Denn es geht um ein Thema, das knapp vier Millionen junge Menschen betrifft, die in ihrer Familie mit Sucht, Gewalt oder einer psychischen Erkrankung konfrontiert — und damit häufig alleingelassen sind. Weil es ein Tabuthema ist, wenn der Vater oder die Mutter trinkt, depressiv, spielsüchtig, gewalttätig ist. Weil das Kind nicht den Mut dazu hat, sich jemandem anzuvertrauen. Oder weil es denkt, all das sei normal.

Diesen Kindern und Jugendlichen steht seit 20 Jahren das digitale Hilfsprojekt „Kidkit“ — mit einer Webseite und einer anonymen Online-Beratung - beiseite. Die Plakatkampagne ist nur eine von vielen Aktionen, die das Team im Jubiläumsjahr nutzt, um über die Belastungen betroffener Jungen und Mädchen — und die Hilfen, die „Kidkit“ ihnen bietet, aufzuklären.

Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg setzt Zeichen für Köln

Das hat auch Martina Voss-Tecklenburg dazu veranlasst, neben Sarah Connor und Frank Schätzing die Schirmherrschaft zu übernehmen. Denn die Bundestrainerin der Frauen-Fußballnationalmannschaft ist davon überzeugt: „Kindern in problematischen Familiensituationen Hilfe anzubieten und sie vor Vernachlässigung und Gewalt zu schützen, gehört zu den wichtigsten Aufgaben unserer Gesellschaft.“ „Kidkit“, das Kooperationsprojekt der Drogenhilfe Köln e.V. und des Vereins „Koala“ übernimmt seit 2. August 2003 dafür erfolgreich Verantwortung. Das Engagement des Teams wurde in all der Zeit mehrfach prämiert.

„wir helfen“ des Kölner Stadt-Anzeigers hilft beim Start

„Gäbe es den Verein ‚wir helfen‘ nicht, gäbe es‚ Kidkit‘ nicht“, sagt Projektleiterin Anna Buning, und erzählt mit Verve von den Anfängen und Höhepunkten des digitalen Hilfsprojekts, für das die Aktion des Kölner Stadt-Anzeigers für Kinder in Not derzeit die Startfinanzierung übernommen hat — und es bis heute mit Spenden unterstützt.

Schließlich war wissenschaftlich längst erwiesen, dass ein Drittel dieser jungen Menschen selbst eine Sucht oder psychische Erkrankung entwickelt
Anna Buning, Kidkit-Projektleiterin

Initiator war der Kölner Suchtforscher Professor Michael Klein — der auch den Verein „Koala“ gegründet hat — da er mit Sorge erlebte, dass es zwar etliche Therapie-Angebote für sucht- und psychisch kranke Eltern, aber kaum niederschwellige Hilfe für deren Kinder gibt. „Schließlich war wissenschaftlich längst erwiesen, dass ein Drittel dieser jungen Menschen selbst eine Sucht entwickelt, ein weiteres Drittel andere psychische Störung und nur ein Drittel unbeschadet bleibt“, sagt die Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin Anna Buning. Also startete Klein gemeinsam mit der Drogenhilfe Köln e.V. „Kidkit“ — als deutschlandweit erstes digitales Hilfsangebot für junge Menschen aus suchtbelasteten Familien.

Kölner digitales Projekt ist bundesweit das Erste seiner Art

„Unser Hauptanliegen ist und war, Kindern und Jugendlichen aus dysfunktionalen Familienverhältnissen, die sich in ihrem Umfeld an niemanden wenden können, sei es aus Schuld-, Schamgefühl oder weil es schlichtweg keine Vertrauensperson gibt, einen einfachen Zutritt zu Hilfe und Beratung zu ermöglichen“, sagt Dagmar Kaiser.

Die Sozialarbeiterin bei der Drogenhilfe Köln ist „Kidkit-Frau der ersten Stunde“ und bis heute dessen pädagogische Leiterin — zuständig für die Schulung, Anleitung und Begleitung des inzwischen achtköpfigen ehrenamtlichen Beratungsteams, „ohne dessen großartiges und kompetentes Engagement die Arbeit nicht möglich wäre", sagt Kaiser und erklärt: „Wir handeln nach dem Vier-Augen-Prinzip, jede Antwort-Mail wird von einer unserer vier hauptamtlichen Fachkräfte gegengelesen.“ Neben der Mail-Beratung gibt es Termin- oder Live-Chats, die ausschließlich von den Fachkräften betreut werden.

In den vergangenen 20 Jahren hat „Kidkit“ seine Angebote technisch und thematisch ausgeweitet, so dass das Team heute vier Module anbietet: Wissenschaftlich fundierte Informationen zu den Themen Sucht, (sexualisierte) Gewalt und psychische Erkrankungen; kostenlose, anonyme Online-Beratung für Zehn- bis 21-Jahrige; Schulungen für Fachkräfte und eine digitale Landkarte mit bundesweiten Hilfsangeboten.

43 Prozent der Jugendlichen erleben Gewalt in der Familie

„Seit Corona haben sich die   Anlässe der Anfragen gewandelt“, sagt Buning. Ging es im Jahr 2019 bei 67 Prozent der jungen Menschen, die sich an uns wandten, um psychische Erkrankungen eines Elternteils, bei 17 Prozent um Gewalt, bei 14 Prozent um Sucht in der Familie, und bei zwei Prozent um sexualisierte Gewalt, waren im ersten Jahr der Pandemie bei 43 Prozent Gewalt das bestimmende Thema, bei 38 Prozent eine psychische Erkrankung, bei sieben Prozent eine Suchterkrankung in der Familie und 12 Prozent suchten Hilfe wegen sexualisierter Gewalt in der Familie.

Wie eine 15-Jährige, die „Kidkit“ im Chat anvertraute, dass ihre Eltern Fotos von ihr in ein Online-Forum stellten, um sie an Männer zu verkaufen. Nach vielen Gesprächen verriet die Teenagerin ihren Wohnort und den Namen ihrer Schule. „Kidkit“ wandte sich an die Lehrerin, die sofort die Polizei einschaltete. Deren Beamte konnten das Mädchen schließlich in die Obhut des Jugendamts übergeben.


20 Jahre Kidkit: Kölner Hilfe für Netz für Kinder aus belasteten Familien

  • 2. August 2003: Als erstes deutsches digitales Hilfsangebot für Kinder aus suchtbelasteten Familien gehen „Kidkit“-Website und Online-Beratung ans Netz.
  • Themen: 2004 kommt zum Thema „Sucht“ „Gewalt in der Familie“ hinzu, 2012 „Psychische Erkrankungen“, 2014 „Glückspielsucht“, 2019 „Sexualisierte Gewalt“, 2020 „Einsamkeit“.
  • Erfolge: 80 Millionen Mal wurden seitdem die „Kidkit“-Info-Seiten zur Aufklärung und Prävention aufgerufen, 650 000 Mal die Videoclips, mehr als 6000 Hilfeanfragen gab es in der Online-Beratung, 2018 hat „Kidkit“ eine bundesweite Hilfedatenbank mit mehr als 1300 Einrichtungen bereitgestellt, 2020 das digitale Bildungsangebot für Fachkräfte „Kidinare“.
  • Auszeichnungen: „Kidkit“ erhielt u.a. den Kölner Ehrenamtspreis, den Goldenen Spatz und den BZGA-Preis für vorbildliche Präventionsarbeit.
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