Kölner Flüchtlingszentrum„Die Pandemie hat unsere Arbeit sehr schwer gemacht“

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Sherry tanzt in ihrem Kostüm aus dem  Theaterstück „Klang der Farben“.

Sherry tanzt in ihrem Kostüm aus dem  Theaterstück „Klang der Farben“.

Köln – Der Plan ist aufgegangen: Der „Marsianer“ ist auf dem Planeten Erde gelandet und auch schon den ersten Erdbewohnerinnen und Erdbewohnern begegnet. Sie sähen ängstlich aus, gibt er per Video-Call mit dem Laptop an seinen Heimatplaneten weiter. Und als die Menschen das silbern-glänzende Gerät in seiner Hand sehen, steuert eine Gruppe direkt auf ihn zu. „Woher kommst du? Kommst du aus Deutschland?“, fragen die Menschen den Mars-Bewohner und einer schiebt gleich hinterher: „Da will ich unbedingt hin.“

Denn was der Marsianer, gespielt von Ali Davoudi, in dieser ersten Szene des Theaterstücks noch nicht weiß: Er ist im Jahr 2015 auf der Balkanroute gelandet. Auf jenem lebensgefährlichen Reiseweg, den damals hunderttausende Menschen aus dem Nahen Osten nahmen, um nach Europa zu gelangen.

Eigene Erlebnisse verarbeiten

Die erste Szene aus dem Theaterstück verrät schon viel über seine Darsteller. Auch einige Schauspielerinnen und Schauspieler der Theatergruppe Ostbrise sind über die südosteuropäische Route nach Deutschland geflohen, unter anderem vor dem syrischen Bürgerkrieg. Jeder und jede der etwa 20 Teilnehmer hat eigene Fluchterfahrungen gemacht.

Seit über zwei Jahren kommen sie wöchentlich ins Flüchtlingszentrum Fliehkraft in Nippes, das Stück „Der Marsianer“ haben sie selbst geschrieben und entwickelt. Angefangen hat Ostbrise als kleine Geflüchteten-Gruppe, die sich im Park oder bei Regen unter der Brücke traf. Nun sind sie froh, dass sie jede Woche im Fliehkraft proben können, erzählt die 22-jährige Sherry, die dem Besuch extra ihr Kostüm aus dem Stück „Klang der Farben“ vorführt.

Leiterin Marjan Garakani hat die Gruppe ehrenamtlich aufgebaut und erzählt, dass bei den Theaterproben auch immer viel diskutiert wird. „Wir verarbeiten in den Stücken gemeinsam unsere Erlebnisse“, sagt sie. „Wir sprechen oft über Migration, Vorurteile und die Herausforderungen des Lebens in Deutschland.“ Für viele ist die Theatergruppe eine Ersatzfamilie, ist sich Garakani sicher. Auch persönliche Probleme der Teilnehmer thematisieren sie immer wieder: die Sorge um den Aufenthaltsstatus, Gewalterfahrungen und Zukunftsängste. Wie so oft in der Jugendarbeit ist das künstlerische Angebot ein Weg, um zu den jungen Erwachsenen erst einmal eine Vertrauensbeziehung aufzubauen. Damit sie bei Schwierigkeiten wissen, an wen sie sich wenden können.

In der Corona-Zeit eingeigelt

Junge Geflüchtete sind immer noch besonders schwierig mit Sozialarbeit zu erreichen, weiß Aische Westermann, die im Fliehkraft für die Jugendarbeit zuständig ist. Sie leben oft jahrelang in Sammelunterkünften, ohne die Stadt und ihre Möglichkeiten zu kennen. „In der Corona-Zeit haben sich viele dann nochmal besonders eingeigelt“, sagt sie. „Und die speziellen Schutzbedürfnisse geflüchteter junger Menschen wurden einfach übersehen.“

Ali Davoudi spielt den „Marsianer“, der bei seinem ersten Besuch auf der Erde ausgerechnet auf der Balkonroute landet.

Ali Davoudi spielt den „Marsianer“, der bei seinem ersten Besuch auf der Erde ausgerechnet auf der Balkonroute landet.

Im neuen Projekt „Wir für dich“ möchte der Flüchtlingsrat als Träger von Fliehkraft einen Fokus auf diese Bedürfnisse legen und möglichst viele Entbehrungen der „verlorenen Corona-Jahre“ wieder gut machen. „wir helfen“ unterstützt das Projekt mit Spenden.

Zwar habe der Flüchtlingsrat stets versucht, die Beratung für die Familien aufrechtzuerhalten und so viele Aktivitäten wie möglich anzubieten, sagt auch Fliehkraft-Leiterin Nahid Fallahi über die vergangenen zwei Jahre. „Aber die Pandemie hat unsere Arbeit sehr, sehr schwierig gemacht. Jeder Kontakt mit unseren Besuchern ist zehn Mal so aufwendig, auch weil sich die Regeln so oft ändern.“ Und gleichzeitig beobachtet sie, dass Gewalt, Depressionen und Stress unter Geflüchteten enorm zugenommen haben.

Streit auf engem Raum

Um die Kinder zu schützen, müssen die Eltern stabilisiert werden, sagt Fallahi und gibt ein Beispiel aus der Praxis. Ihre Klientin Frau A., wie sie hier heißen soll, lebt mit ihren vier Kindern in einer Gemeinschaftsunterkunft, ihr Mann ist körperlich krank, sie selbst traumatisiert von Erlebnissen in ihrem Herkunftsland. Als es in der Unterkunft einen Corona-Fall gibt, muss die Familie in Quarantäne. Die körperliche Situation des Vaters verschlechtert sich, weil er seine Arztbesuche nicht mehr wahrnehmen kann. Auf dem beengten Wohnraum kommt es täglich zu Auseinandersetzungen und Streit, in denen der Mann gewalttätig wird. Die Frau stellt sich oft zwischen die Kinder und ihren Mann, trotzdem leiden alle. Sie hält es nach eigenen Angaben viel zu lange aus, bevor sie in die psychosoziale Beratung kommt. Die Polizei zu rufen sei für Frau A. nie infrage gekommen, aus Angst vor einer Abschiebung.

So können Sie helfen

wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird

Mit unserer Aktion „wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird“ bitten wir um Spenden für Projekte, die Kinder und Jugendliche wieder in eine Gemeinschaft aufnehmen, in der ihre Sorgen ernst genommen werden.  

Bislang sind 1.328.993,90 Euro (Stand: 27.09.2022) eingegangen. Die Spendenkonten lauten: „wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“ Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 3705 0299 0000 1621 55 Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 3705 0198 0022 2522 25

Mehr Informationen und Möglichkeiten zum Spenden unter www.wirhelfen-koeln.de.

Nun besucht Frau A. regelmäßig die psychosoziale Beratung von Fallahi, ihre Kinder gehen in eine andere Beratung. Gemeinsam versuchen die Mitarbeiterinnen, die Kinder in eines der wenigen vorhandenen Kölner Therapieangebote zu vermitteln. Auch die Aufenthaltssituation soll zeitnah geklärt werden. „Das ist leider kein Einzelfall“, sagt Fallahi. „Die Pandemie hat die ohnehin große Belastung verstärkt.“ Weil psychologische Hilfsangebote so rar sind, will Fliehkraft künftig Gruppenangebote für Jugendliche machen.

Selbstwirksamkeit erfahren

Außerdem hat Westermann mit ihren Kolleginnen weitere Ideen entwickelt. Ein Gartenprojekt soll Kinder und Jugendliche für ein paar Stunden aus den Unterkünften locken und sie Selbstwirksamkeit erfahren lassen. In einer Mädchengruppe werden geschlechtsspezifische Themen wie Rollenbilder, Körperideale und Sexualität besprochen.

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Ein weiteres Anliegen: „Auf uns kommen oft Jugendliche mit oder ohne Fluchthintergrund zu, die sich sich selbst gesellschaftlich engagieren wollen“, sagt Westermann. Auch das möchte der Flüchtlingsrat ihnen im Projekt „Wir für dich“ ermöglichen. Generell gilt für die verschiedenen Aspekt von „Wir für dich“: Alle jungen Besucherinnen und Besucher sollen nach der Zeit der Vereinsamung im Fliehkraft wieder eine Gemeinschaft erfahren. Und vielleicht ja eine kleine Familie werden, wie die Theatergruppe Ostbrise.

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