Letzte ChanceBei „Mobile“ lernen schulmüde Jugendliche für den Abschluss

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Ole Fritz (l.) und Benjamin Bröhl von „Mobile“ unterstützen Jugendliche, die in einer Regelschule keinen Abschluss gemacht haben.

Ole Fritz (l.) und Benjamin Bröhl von „Mobile“ unterstützen Jugendliche, die in einer Regelschule keinen Abschluss gemacht haben.

Köln – Ole Fritz, der Lehrer, und Daniel, sein Schüler, haben eins gemeinsam: Sie kamen im deutschen Schulsystem nicht gut klar. Man stehe allein vor 30 Schülern und werde keinem gerecht, sagt Fritz und gibt nach dem Praktikum an einer Gesamtschule frustriert seine Pläne, Lehrer zu werden, auf. Er sei überhaupt nicht mitgekommen, wenn vorne etwas erklärt wurde, sagt Daniel, und geht irgendwann nicht mehr hin.

Was die beiden Männer an einem trüben Montagmittag mitten im zweiten Lockdown per Video-Chat schildern, sind zwei Seiten desselben Problems. Schule in Deutschland ist Massenabfertigung. Die Klassen sind groß, die Leistungsanforderungen sowohl an Schüler als auch an Lehrer vereinheitlicht. Wer einmal im Unterrichtsstoff hinterherhinkt, bleibt oft auf der Strecke, wenn nachmittags nicht die Eltern oder ein Nachhilfelehrer bereitstehen.

Von Schule zu Schule geschoben

All diese Schwierigkeiten hat die Corona-Krise bekanntermaßen sichtbarer gemacht und massiv verschärft. Im Schulmüden-Projekt „Mobile“ geht es aber nicht um mangelnde Digitalisierung oder Zentralabitur, sondern um Schüler, die ihre oft letzte Chance auf den Schulabschluss bekommen. Dort lernen Jugendliche wie Daniel mit Fritz, der wie er selbst sagt, nun eben doch so etwas wie ein Lehrer geworden ist, und seinem Kollegen Benjamin Bröhl für den Hauptschulabschluss. Ein Jahr lang unterrichten Fritz und Bröhl meist fünf oder sechs Schüler in den zentralen Fächern.

„Viele unserer Schüler haben brüchige Lebensläufe und leben in schwierigen Situationen. Sie sind oft von Schule zu Schule geschoben worden“, sagt Bröhl, der ebenfalls am Interview teilnimmt. So war es auch bei Daniel, der offen erzählt, aber nicht fotografiert werden will. Der 18-Jährige hatte wegen eines Sprachfehlers seit der Grundschule Schwierigkeiten. Er sei weder mit den Lehrern noch den Schülern klargekommen, es wurden Witze über ihn gemacht, die Daniel nicht wiederholen will. Nur so viel verrät er: „Sie waren sehr unpassend.“ Von der Hauptschule geht er ohne Abschluss ab, versucht es noch einmal auf einem Berufskolleg, findet sich auch dort nicht zurecht.

Gründe sind Lebenskrisen, psychische Probleme oder ein schwieriges Umfeld

Bei „Mobile“ fühlt er sich das erste Mal wohl. Er musste sich nicht schämen, wenn er etwas nicht versteht, weil alle die gleichen Schwierigkeiten haben. „Wenn einer mal nicht gekommen ist, haben sie sofort gefragt: Was ist los? Gibt es ein Problem bei dir?“, erzählt er. Viele der „Mobile“-Schüler werden auch zu Hause vom Verein „Auf Achse“ betreut, zu dem das Schulmüden-Projekt gehört. „Auf Achse“ kümmert sich im Kölner Norden um junge Menschen und Familien in Notlagen. „wir helfen“ hat den Verein im Rahmen einer Corona-Spendenaktion zuletzt im vergangenen Sommer unterstützt.

Erst seit zwei Wochen dürfen die sechs „Mobile“-Schüler wieder in die Räume des Projekts.

Erst seit zwei Wochen dürfen die sechs „Mobile“-Schüler wieder in die Räume des Projekts.

Bröhl von „Mobile“ tauscht sich stets intensiv mit den Betreuern der Jugendlichen aus, kennt den persönlichen Hintergrund jedes Schülers. Oft sind Lebenskrisen, psychische Probleme oder ein schwieriges soziales und familiäres Umfeld Gründe, warum Jugendliche „schulmüde“ sind. Wie viele in Köln dauerhaft der Schule fernbleiben, wird nicht direkt erfasst. Die Schulen melden unentschuldigtes Fehlen an die Bezirksregierung, diese leitet dann ein Bußgeldverfahren gegen die Eltern ein. Davon gab es im vergangenen Jahr 571, 2019 waren es noch fast doppelt so viele. Bedingt durch die vielen ausgefallenen Schultage 2020 ist die Zahl deutlich geringer, erklärt ein Sprecher der Bezirksregierung.

Unterricht mitgestalten

„Wir sagen immer: Ihr müsst selbst lernen“, sagt Fritz. „Aber wir helfen euch bei allem anderen.“ Der Unterricht beginnt, angepasst an den Lebensrhythmus eines Teenagers, zum Beispiel erst um 11 Uhr. Die ersten Wochen seien oft frustrierend, weil es den Schülern schwerfalle, länger als ein paar Minuten an einer Aufgabe zu arbeiten. Vielen fehle die Konzentrationsfähigkeit, oft bauen Fritz und Bröhl in den Unterricht einfache Denksportaufgaben ein. Im Laufe der Zeit verbessere sich das Durchhaltevermögen dann kontinuierlich.

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Fritz und Bröhl lassen die Schüler den Unterricht mitgestalten. Daniel mag Mathe – und Englisch überhaupt nicht. An guten Tagen wagte er sich trotzdem an die Sprache, geht es ihm nicht so gut, konzentriert er sich eben eher auf das, was ihm leichtfällt. Für Fritz ist er ein Musterbeispiel für den Erfolg von „Mobile“. „Daniel wollte diesen Abschluss unbedingt.“ Er hat ihn im vergangenen Jahr auch bekommen und will bald eine technische Ausbildung beginnen.

Die Schüler, die dieses Schuljahr den Abschluss machen, haben es noch schwerer als ohnehin schon: Auch sie mussten wegen der Schulschließungen wochenlang alleine zu Hause lernen. Erst seit Anfang letzter Woche dürfen sie wieder in die „Mobile“-Räume in Nippes.

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