„Die Heizung läuft, das reicht doch“Kölner Büttenredner über Leben in der Pandemie

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Büttenredner Achim Schall

Büttenredner Achim Schall

Köln – Achim Schall hat eine lange Nacht hinter sich. Ein wenig sieht man es seinen Augen an, knittrig wirken sie. „Harry und ich sind gestern auf einer schönen Herrensitzung aufgetreten“, sagt er. Und beschreibt, wie toll sich das anfühle: Wenn die beiden zum Abschluss eines Bühnenprogramms „Jecke Saache“ anstimmen und der ganze Saal mitsingt.

Schall ist Büttenredner. Seit mehr als 15 Jahren ist er mit Harald Quast als Duo „Harry un Achim“ auf Karnevalsbühnen und ganzjährig auf Veranstaltungen in der Region unterwegs. An einem Morgen kurz vor Weiberfastnacht sitzt er im Schankraum von Lena’s Stüffje in Weidenpesch, um darüber zu sprechen, wie das so ist: als Büttenredner nach zwei Jahren Pandemie. An den Wänden hängen weiße und rote Luftballons, FC-Schals, eine Vitrine mit Karnevalsorden. Schall grüßt „dat Lenchen“, als die Wirtin in den Raum tritt. Er scherzt mit „Micha“ hinter der Theke.

Zu jedem Gesicht, das im Laufe des Vormittags durch die Tür tritt, kennt er den Namen. „Das hier ist ein Veedels-Treffpunkt“, sagt er. „Mein Refugium. Das sind immer dieselben Lück hier. Ich komme oft mit Harald her, auch, um zu brainstormen.“ Zum Beispiel über Autofahrer, die so langsam fahren, „dass sie nicht geblitzt, sondern gemalt werden“ und dann von Hölzchen auf Stöckchen, Ideen sammeln.

Büttenredner in der Corona-Pandemie: Monate voller Unsicherheit

Die letzten Monate waren für „Harry un Achim“ geprägt von Unsicherheiten. Noch im Spätsommer 2021 hatte das Duo Hoffnung, dass nach eineinhalb Jahren Stillstand – ohne die Weihnachtsveranstaltungen 2020, Karneval 2021, ohne Geburtstage und Sommerfeste – wieder eine normale Session vor ihnen liegt. Aber die vierte Corona-Welle war schneller. Erst wurden die meisten Herbst-Termine abgesagt, dann die für den Winter. Und irgendwann war klar: Besser wird es im Fastelovend auch nicht werden. Der russische Angriff auf die Ukraine ist zum Zeitpunkt des Gesprächs noch nicht absehbar.

Ein paar Veranstaltungen habe man schon machen können, sagt Schall. „Das war toll. Aber wir hatten wirklich sehr wenig Bühnenzeit. Das ist wie beim Fußball: Du kannst nicht aufs Training verzichten und dann im Pokal gegen Bayern München spielen. Leichtigkeit kommt mit Bühnensicherheit.“ Er schätzt, dass ihre Buchungslage derzeit bei fünf bis zehn Prozent des Normalniveaus liege. Einige Veranstaltungen kommen spontan dazu, für diesen Abend zum Beispiel ein Auftritt in Essen.

Quast ruft an, um die letzten offenen Fragen zu klären. Schall nennt ihn „Liebchen“, es geht um Klamotten, die Frage, wer wann fahren kann. Normalerweise absolvieren „Harry un Achim“ an Wochenenden in der Session gut und gerne sechs Auftritte pro Tag. Dieses Jahr sind es am Karnevalswochenende zwei virtuelle Veranstaltungen und eine Kneipentour. 

Vom Karneval zu leben ist schwer

Vom Karneval leben – das ist schon in normalen Zeiten eine Herausforderung. Die Situation ist hier ähnlich wie in anderen Teilen der Kreativwirtschaft: Es gibt die „Champions League“, wie Schall sie nennt, mit sehr komfortablen Gagen, und es gibt die anderen. Über genaue Summen möchte er nicht sprechen. „Wir kommen zurecht“, sagt er nur. Die Vor-Corona-Jahre seien sehr gut gelaufen, man habe sich ein Standing erarbeitet.

In der Pandemie ist die Situation freilich noch einmal eine ganz andere. Schon im vergangenen Jahr schätzte das Institut der deutschen Wirtschaft die finanziellen Einbußen durch die Absage des Karneval bundesweit auf 1,5 Milliarden Euro. Für 2022 setzte es den prognostizierten Schaden mit 1,62 Milliarden Euro sogar noch höher an. Gesonderte Daten für die Veranstaltungswirtschaft wies die Studie dabei allerdings nicht aus.

Kölner Büttenredner: Pandemie zehrt Rücklagen auf

Schall selbst musste im vergangenen Jahr staatliche Unterstützung beantragen, es gab Hilfen der Agentur für Arbeit, vom Land. Für diese Session hofft er auf die von der Politik angekündigten Ausgleichszahlungen für entfallene Veranstaltungen. Denn die Pandemie hat die finanziellen Rücklagen schnell aufgezehrt. Auch seine Frau war zwischenzeitlich in Kurzarbeit, ihr Bad hatte einen Wasserschaden, es stehen Renovierungsarbeiten im Schlafzimmer an, „und ein Bett bekommt man ja auch nicht für 5,50 Euro“.

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Seine Frau und er hätten viele Ausgaben in der Pandemie zurückgestellt: keinen Urlaub, keine Reparaturen, nicht einfach den Pullover in der Stadt mitnehmen, „nur, weil er schön ist“. „Wir nagen aber auch nicht am Hungertuch“, sagt Schall. „Letztes Jahr hat die Familie uns unterstützt. Wenn dieses Jahr die Ausgleichszahlungen fließen, kommen wir zurecht. Ich hatte sowieso nicht vor, mir 'nen Porsche zu kaufen.“

Erster Kontakt über die Kirche

Anders als sein Partner Quast hat Schall sich schon vor vielen Jahren bewusst dafür entschieden, sich ganz auf die Bühne zu konzentrieren. Sein Werdegang: Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann, Bundeswehr, eine innerbetriebliche Fortbildung zum Vertriebsfachmann. Der erste Kontakt zum Karneval kommt über einen Bekannten in der Kirche. „Wir hatten vom Tuten und Blasen keine Ahnung. Wir haben einfach Witze gerissen. Aber einer hat das Potenzial gesehen“, sagt Schall heute.

Er findet einen neuen Bühnenpartner, mit dem er rund 13 Jahre zusammenarbeitet. Nach einem Zwischenstopp als Geschäftsführer eines Küchenstudios tut er sich mit seinem Freund Harald Quast zusammen. Damals arbeitet Schall noch neben den Auftritten. Doch er wird depressiv, leidet unter einem Burn-out. In der Reha entscheidet er sich: Alles auf den Karneval. „Das ist gut gelungen“, sagt er. „Harry und ich sind mehr als Freunde, wir könnten Geschwister sein. Wir machen das hier immerhin seit 15 Jahren.“

Die Zeiten, in der er materiell gedacht habe, seien lange vorbei. „Meine Frau und ich haben eine Wohnung, die Heizung läuft, das reicht doch. Ich muss mir keinen Fernseher für tausend Euro kaufen, nur weil der groß ist. Und mein Auto fahre ich eben so lange, bis es auseinanderfällt.“ Gerade planen Schall und Quast derweil bereits die Session 2023. Die Buchungslage ist gut bislang. Drei bis vier Wochen nach der Nubbelverbrennung machen die beiden normalerweise Pause. Dann fängt die Arbeit von neuem an.

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