Sprechstunde am BildschirmKölner Mediziner ist Deutschlands erster Video-Arzt

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  • Das Projekt ist bundesweit bislang einzigartig.
  • Ein Kölner Mediziner behandelt per Videosprechstunde Patienten in Baden-Württemberg.
  • Nun haben die Spitzenvertreter des deutschen Gesundheitswesens das Tor zur Ausweitung der Telemedizin weit aufgestoßen.

Köln – Auf die Entscheidung hatte Tobias Gantner lange gewartet. Am vergangenen Donnerstag haben die Spitzenvertreter des deutschen Gesundheitswesens das Tor zur Ausweitung der Telemedizin weit aufgestoßen. Von nun an ist es Ärzten erlaubt, per Videosprechstunde auch Patienten zu behandeln, die sie nie zuvor gesehen haben, und das auch abzurechnen. Sollte also ein Patient aus Köln einen Arzt aus Bremen bevorzugen, so kann er sich von ihm fernbehandeln lassen. „Für die Zukunft der Telemedizin ist das so etwas wie der Mauerfall“, sagt Gantner.

Bereits vor zwei Jahren hat der Kölner Arzt und Unternehmer das Modell der „Ohne Arzt Praxis“ entwickelt und in der schwäbischen Provinz eine Gemeinde gefunden, die bereit war, seinen Weg mitzugehen. Der letzte Hausarzt hat Spiegelberg 2014 verlassen. Seitdem steht die Gemeinde im württembergischen ohne allgemeinmedizinische Praxis da. Am Mittwoch eröffnete nun die erste „Ohne Arzt Praxis“ Deutschlands, in der der Patient seinen Hausarzt nur per Video zu Gesicht bekommt. Den Rest erledigt eine speziell geschulte Medizinische Fachangestellte (MFA). Sie soll grundlegende Untersuchungen übernehmen. Allerdings ist das Spektrum auch auf Grund der hohen versicherungstechnischen Auflagen bislang noch eingeschränkt.

Dr Tobias Gantner - Foto Ira Kaltenegger (3 von 3)

Tobias Gantner, Arzt und Unternehmer

Die MFA soll Wunden versorgen können, Verbände wechseln und Blutdruck messen. Bei Bedarf kann sie den Hausarzt per Video zuschalten, und unter seiner Anleitung Herz- und Lungentöne abhören, sowie die Haut untersuchen und einen Blick in die Ohren werfen. Die benötigten Instrumente sind mit Kameras ausgestattet und übertragen das Bild zum Arzt. Auch das Stethoskop ist eine Neuentwicklung. Der Knopf wird auf Herz und Lunge aufgesetzt, zeichnet die Geräusche auf und soll künftig über Algorithmen Unregelmäßigkeiten erkennen können. Über ein geschütztes Internet-Portal können sich Ärzte die Audiodatei anhören. „Wir wollen mit diesem Projekt der ärztlichen Unterversorgung gerade im ländlichen Raum entgegenwirken“, sagt Gantner.

Ein Novum in Deutschland

Telemedizinische Projekte sind in NRW nicht neu. So gibt es beispielsweise den „Tele-Arzt“. Medizinische Fachkräfte machen Hausbesuche und schalten bei Bedarf per Video einen Arzt zu. Die Wirtschaftsförderung des Kreises Soest erhält im Rahmen des Bundesprogrammes Ländliche Entwicklung (BULE) vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 200 000 Euro für den Aufbau eines digitalen Gesundheitstreffpunkts, um beispielsweise regelmäßige Videosprechstunden anzubieten, die durch eine MFA vor Ort begleitet werden. Auch Gantners Projekt wird vom Bundeslandwirtschaftsministerium gefördert. Und doch sieht er sein Projekt als Novum in der Bundesrepublik: „Unser Modell ist ein offenes System. Jeder Arzt kann sich beteiligen. Im Grunde braucht er nur einen Computer, eine Kamera und einen Internetzugang.“ Selbst die MFA ist nicht beim Arzt fest angestellt.

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Gantner will ein neues Selbstverständnis der Mediziner etablieren: „Die Ära der Ärztezentriertheit geht zu Ende.“ Es sei an der Zeit, die Branche durchlässig zu machen für andere Fachleute und Technologien und sich der Digitalisierung zu öffnen.

Tobias Gantner, 45, ist einer, der vor lauter Ideen kaum abschalten kann. Er hat Medizin und Philosophie studiert. Im April 2013 hat er in Köln sein Unternehmen „HealthCare Futurists“ gegründet. Seitdem erfindet er im Akkord: Pillen-Spender für Zuhause, eine App, die Ärzten helfen soll, Medikamente genau zu dosieren, ein Spiel, das nach dem „Tip-Toi“-Prinzip Betroffene und Angehörige spielerisch über Alzheimer aufklären soll. Sein Spitzname: „Daniel Düsentrieb der Medizin“.

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Die Innovationskraft kommt nicht überall gut an. Eine Praxis ohne Arzt? „Für viele Mediziner ist das eine schwere narzisstische Kränkung“, sagt Gantner. Doch der Nimbus bröckelt, glaubt er. Gerade bei jungen Ärzten sei das „kollaborative Denken“ schon viel besser ausgeprägt. „Nicht mehr die Ärzte allein sollten über die Zukunft der Medizin bestimmen, sondern die Bevölkerung muss gefragt werden, welche Medizin sie will.“

Zwei Jahre lang durch die Bundesländer gereist

Zwei Jahre ist Gantner durch die Bundesländer gereist und hat sein Projekt in Gegenden mit Hausarztmangel beworben. Eine „Via Dolorosa digitalis“, sei das gewesen. Vielerorts hätten altgediente Vertreter der Ärztekammern, aber auch Krankenkassen empört abgewunken. Die Gemeinde Spiegelberg machte schließlich mit und nutzt nun die ehemalige Hausarztpraxis für das Projekt. Die MFA wird aus dem Fördertopf des Ministeriums bezahlt. Auch einen innovativen Hausarzt konnte Gantner finden. „Gerade wir als junge Ärztegeneration können uns der Telemedizin nicht mehr verschließen und wollen den Wandel mitgestalten“, sagt der 42 Jahre alte Jens Steinat, der aus seiner Praxis im zehn Kilometer entfernten Oppenweiler künftig die Fernbehandlungen anbietet. „Aber man muss verantwortungsvoll damit umgehen.“ Experimente werde es nicht geben.

Arzt aus NRW will mitmachen

Das größte Hemmnis für derartige Innovationen war lange Zeit Paragraf sieben der Musterberufsordnung. Das Regelwerk bestimmt, was ein Arzt tun darf und was nicht. Fernbehandlungen waren darin nicht vorgesehen. Heute steht es den Ärzten in manchen Bundesländern frei, sie möglich zu machen. Alan Strassburg, Lungenfacharzt im ostwestfälischen Herford, ist auf Gantners Seite: „Aufgrund des Fachärztemangels warten Patienten schon jetzt bis zu einem halben Jahr auf einen Termin, dabei könnte vielen auch ohne persönliches Erscheinen geholfen werden.“ Der Mediziner ist bereit, sich bei Bedarf per Video zuzuschalten und den Hausarzt zu beraten. Er könnte nach Studium des digitalen Befundmaterials Medikamente empfehlen oder eine Überweisung zum Röntgen oder einer Computertomographie anregen. Als er mit einem Justiziar der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Westfalen-Lippe über das Projekt gesprochen hat, sei dieser entsetzt gewesen. „Ich habe den Eindruck, dass gerade die junge Ärzteschaft viel innovativer ist als unsere Standesvertretung“, sagt Strassburg.

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Eine Pflegerin legt einer Bewohnerin ein EKG-Gerät an, dass die Daten an einen Tablet-Computer und von dort aus zum Arzt überträgt.

Die Unterversorgung mit Hausärzten auf dem Land wird auch aus Sicht der KV Nordrhein immer dramatischer. Demnach ist jeder dritte Hausarzt über 60 Jahre alt. Insgesamt könnten derzeit 250 hausärztliche Zulassungen vergeben werden, die meisten davon am linken Niederrhein, in der Voreifelregion und im Bergischen Land. In ganz Nordrhein-Westfalen gibt es nach Angaben des NRW-Gesundheitsministeriums 640 offene Hausarztsitze. „Insbesondere in ländlichen Regionen steht der immer weiter steigenden Nachfrage nach medizinischen Leistungen von meist immer älter werdenden Patienten eine abnehmende Zahl an Pflegekräften und Ärzten gegenüber“, schreibt die KV Nordrhein auf Anfrage. Klar sei aber auch, dass telemedizinische Lösungen das Behandlungsgeschehen nur ergänzen könnten. Auch die Ärztekammer Nordrhein zeigt sich gebremst: Gerade bei der Versorgung älterer Menschen müsse der persönliche Kontakt „das Maß aller Dinge bleiben“. Das Ministerium weist darauf hin, dass nicht mehr Telemedizin, sondern mehr Hausärzte nötig seien. „Ein Planungsbereich ohne Arzt ist auf Dauer nicht akzeptabel.“

Zwei Jahre läuft die Testphase für Gantners Projekt in der Provinz. Dabei wird das Projekt wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Ein Arzt aus der Region hat die Eröffnung zur Eigenwerbung genutzt. Er schaltete eine Anzeige, in der steht: Wer die „klassische Variante des Arztgesprächs“ mit persönlicher Untersuchung bevorzuge, der sei in seiner Praxis willkommen.

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