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Endlich Zeit für ein Buch: Wir geben ein bisschen Inspiration für Ihre Reiselektüre

Endlich Zeit für ein Buch: Wir geben ein bisschen Inspiration für Ihre Reiselektüre

Die Sommerferien können die perfekte Zeit dafür sein, endlich wieder in Ruhe ein Buch zu lesen. Wir geben ein paar Tipps.

Wie man Spaß am Leben entwickelt

Es ist schon ein sehr besonderer Job, den Suzu bei Herrn Sakai ergattert hat. Die junge Frau räumt als Reinigungskraft an Leichenfundorten dem Leben der Toten hinterher. Menschen, die unbemerkt aus dem Leben gegangen sind – Kodokushi, so heißt „einsamer Tod“ auf Japanisch. Auch Suzu hat kaum ein Sozialleben. So makaber das Setting auf den ersten Blick scheint, so licht und optimistisch erzählt Milena Michiko Flasar davon, wie ihre Heldin über die Toten das Leben entdeckt. Erst widerwillig, bald zusehends feinfühliger für die Probleme der anderen – und die von Herrn Sakai angezettelten Gemeinschaftsaktionen wie das Kirschblütenpicknick. Ein herrlich skurriles Personal kommt in dem Roman zusammen, von den uralten Nachbarn, mit denen Suzu plötzlich Gespräche führt, bis zu dem Worte sammelnden Jungen, der in einer Box in einem Internetcafé haust. Ein tiefgründiges Buch über soziale Isolation – und den Spaß am Leben. ben

Milena Michiko Flasar: „Oben Erde, unten Himmel“. Wagenbach. 304 Seiten, 26 Euro


Zwei Paare auf einem Boot

Zwei Paare, die nichts weiter verbindet, als dass die Männer gemeinsam in einer Kanzlei arbeiten – der eine Chef, der andere sein Protegé. Noch weniger gemeinsam haben die Frauen: Claudia, die gerade noch ein Hochglanzmagazin leitete, und Tanja, die Altenpflegerin. Zusammen mit dem rätselhaft eigenbrötlerischen Skipper schickt Kristina Hauff sie in „In blaukalter Tiefe“ auf einen abgründigen Segeltörn Richtung Stockholm.

Im Wechsel der Perspektiven nimmt die Autorin ihre Protagonisten in den Blick, konturiert mit entschiedenem Strich vier Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebensentwürfen. Ein Setting, in dem schnell die Konflikte aufbrechen. Zwischen Generationen, Ehepartnern, Kollegen. Die Ehe von Claudia ist ohnehin längst Fassade; aber auch Tanja stellt bald ihre Beziehung infrage. Und zwischen den Männern kriselt es ohnehin. Das geht nicht ohne Klischees ab, und zuweilen wirken die Psychologie der Figuren, ebenso wie der Verlauf allzu sorgfältig konstruiert. Ihren Sog entwickelt die Geschichte trotzdem. ben

Kristina Hauff: „In blaukalter Tiefe“. Hanser blau. 288 Seiten, 23 Euro


Große Liebe, große Lügen

Seit unglaublichen 60 Jahren geht das jetzt schon: Barry liebt Morris – aber er traut sich nicht, seine Gefühle öffentlich zu zeigen. Das soll sich ändern – doch hat er wirklich den Mut, sich mit 74 Jahren zu outen? Zumal seine Frau Carmel und seine erwachsenen Töchter kaum etwas von seinem Doppelleben ahnen?

In ihrem Roman „Mr. Loverman“ erzählt die britische Autorin Bernardine Evaristo von den Tagen der Entscheidung, verwebt das mit Rückblenden und Kapiteln, in denen Carmel ihre Version der Ehe schildert. Barry, der vor Jahrzehnten aus der Karibik nach London gekommen ist, ist ein manchmal überdrehter, oft besserwisserischer Ich-Erzähler, der seine Ängste am liebsten hinter flapsigen Kommentaren versteckt. Das Buch ist komisch und unterhaltsam, und doch geht es auch um Rassismus, Queerfeindlichkeit und darum, welche Verletzungen so eine Lebenslüge anrichtet.

Im Original ist „Mr Loverman“ vor zehn Jahren erschienen. Nachdem Evaristos mit dem Booker Preis ausgezeichneter Roman „Mädchen, Frau etc.“ in Deutschland ein großer Erfolg war, hat ihr Verlag nachträglich diesen Roman herausgebracht. Zum Glück.sul

Bernardine Evaristo: „Mr. Loverman“. Tropen. Aus dem Englischen von Tanja Handels. 331 Seiten, 25 Euro


Das Leben im kleinen Kosmos Café

Wien im Jahr 1966: Robert Simon schlägt sich als Gelegenheitsarbeiter durch. Dann gelingt es ihm, ein Café zu pachten, na ja, es ist kein richtiges Café. Aber es wird zum Treffpunkt für allerlei Menschen mit ihren Schicksalen, Vorlieben, Geschichten. Robert Seethaler, Autor des Erfolgsbuchs „Der Trafikant“, erzählt in „Das Café ohne Namen“ in gewohnt ruhigem, unaufgeregtem Ton aus dem kleinen Kosmos des zweiten Wiener Bezirks der Sechziger- und Siebzigerjahre. Es ist eine Zeit der Umbrüche, die auch vor den Protagonisten des Buchs nicht haltmachen. Wer nicht selbst lesen will: Matthias Brandt liest das Buch auf gewohnt hinreißende Art. tz

Robert Seethaler: „Das Café ohne Namen“. Claassen. 288 Seiten, 24 Euro. Das Hörbuch ist bei Hörbuch Hamburg erschienen. 5 CDs kosten 24,95 Euro, Download 18,95 Euro.


Eine Hommage an das Leben

Zwischen schnoddrig und melancholisch schwingt das Zwiegespräch, das die Bestsellerautorin Adriana Altaras in ihrem neuen autobiografischen Buch anzettelt. Auf der einen Seite die Tante, die kurz vor ihrem 100. Geburtstag in einem Pflegeheim in Mantua auf den Tod wartet. Auf der anderen die Nichte, die in Berlin damit hadert, dass der Mann sie nach 30 Jahren Ehe einfach so verlassen hat. Und weil gerade die Pandemie wütet, sitzt jede mit ihren Gedanken und Erinnerungen allein, ab und zu unterbrochen von köstlich absurden Telefonaten.

Altaras gelingt eine berührende Hommage an die Tante mit ihrer Leidenschaft für schicke Garderobe, Wasser und Pasta: „Ein Leben lang mittags Pasta und man überlebt alles“. Und an das Leben überhaupt. Mitsamt dem unvermeidlichen Tod. Man lauscht der lebensweisen Tante und den ironischen Selbstreflexionen der Nichte, die als kleines Kind bei der Tante in Italien lebte, während die streng kommunistischen Eltern in Titos Jugoslawien noch den virulenten Antisemitismus verdrängten. Und man begegnet zwei einander innig verbundenen Frauen, in deren gewitzten Dialogen auch zwei Zeitalter lebendig werden.ben

Adriana Altaras: „Lieber allein als in schlechter Gesellschaft“. KiWi. 240 Seiten, 22 Euro


Der kurze Sommer in der Provence

Es ist eine Sehnsuchtslandschaft, seit vielen Jahren: Im Wohnzimmer von Ellis“ Eltern hängt die Reproduktion eines van-Gogh-Gemäldes. Diese Sonnenblumen sind ein Lichtblick in dem düsteren Haus, in der düsteren Umgebung. Ellis und sein Freund Michael wollen der trüben Atmosphäre entkommen und fahren in die Provence, dorthin, wo die Sonnenblumenbilder entstanden.

In Rückblicken erzählt die Britin Sarah Winman von Ellis“ und Michaels Ausbruchversuch in den späten 1960er-Jahren und davon, wie abrupt diese „Lichten Tage“ endeten. Weil die beiden jungen Männer sich nicht trauen, eigene Lebensentwürfe zu entwickeln, und vor allem weil sie nicht aussprechen, was sie wirklich fühlen und sich wünschen. Winmans Roman über Liebe und Verlust ist gefühlvoll und oft traurig, kitschig aber ist er nie. sul

Sarah Winman: „Lichte Tage“. Klett-Cotta. Aus dem Englischen von Elina Baumbach. 240 Seiten, 22 Euro


Diese Frau hat das Kino mitbegründet

Für den Strandkorb ist diese Graphic Novel vielleicht ein wenig zu schwer, zu unhandlich. Aber es gibt ja auch noch viele andere Orte, um die ungewöhnliche Geschichte dieser frühen Pionierin der Filmwelt zu lesen. Wo auch immer, es lohnt sich. Denn erzählt wird das Leben der Französin Alice Guy, die 1896 mit „La Fée aus Choux“ („Die Fee der Kohlköpfe“) den vermutlich ersten Spielfilm der Historie gedreht hat (die Brüder Lumière hatten nur kleinere Sequenzen geschaffen). Aber obwohl Alice Guy in den ersten Jahren der Kinogeschichte als Regisseurin und Drehbuchautorin rund 500 Filme inszenierte und produzierte, ist sie heute vergessen. Die voluminöse Graphic Novel „Alice Guy. Die erste Filmregisseurin der Welt“ erzählt streng chronologisch und zurückhaltend realistisch gezeichnet nun vom Wirken dieser ungewöhnlichen Frau. Unter anderem dieses Buch, das durch biografische Skizzen der wichtigsten Personen aus Guys Leben ergänzt wird, könnte Guy endlich ihren Platz in der Kinogeschichte zuweisen. tz

Catel Muller, José-Louis Bocquet: „Alice Guy. Die erste Filmregisseurin der Welt“. Übersetzt von Antje Riley. Splitter. 400 Seiten, 45 Euro


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