Polarisiertes Deutschland?Längst nicht so gespalten wie behauptet

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Illustration: Eine doppelte Mauer trennt zwei Gruppen von menschen

Polarisierte Gesellschaft, Wochenend-Ausgabe

Immer wieder heißt es, unsere Gesellschaft sei tief gespalten. Doch Studien zeichnen ein anderes Bild. Nur eine Gruppe steht dem gesellschaftlichen Konsens wirklich entgegen.

Die Mitte der Gesellschaft zerbröckelt, die Ränder breiten sich aus. Ob bei den Themen Klimaschutz, Einwanderung oder Europa – unversöhnliche Lager in Deutschland können nicht mehr miteinander reden. Die politische Polarisierung scheint eine ausgemachte Sache zu sein. Rund jeder zweite Deutsche befürchtet laut einer Allensbach-Umfrage, dass es in der Gesellschaft zunehmende Spaltungstendenzen gibt. Doch ist Deutschland wirklich ein polarisiertes Land?

Auf diese Frage suchten die Soziologinnen Céline Teney von der Freien Universität Berlin und Li Kathrin Rupieper von der Leibniz-Universität Hannover nach einer Antwort. Sie nahmen unter die Lupe, ob die Themen Einwanderung, EU, offene Märkte und Umweltschutz die Bevölkerung zwischen 1989 und 2019 zunehmend in unversöhnliche Lager geteilt haben.

Positivere Einstellung zu Umweltschutzmaßnahmen

Das Ergebnis: Bei keinem der Themen hat sich die Gesellschaft über die Jahre hinweg in zwei einander gegenüberstehende Lager entwickelt. So habe die Mehrheit der Deutschen seit Jahrzehnten eine differenzierte Haltung gegenüber der Einwanderung.

Vielmehr fanden die Soziologinnen einen allgemeinen Meinungsumschwung hin zu einer positiveren Einstellung zur Einwanderung und zu Umweltschutzmaßnahmen. Allerdings identifizierten sich Deutsche mit hohem Bildungsstand und hohem Einkommen im Laufe der Zeit immer stärker als Europäer als Deutsche mit niedrigem Bildungsstand oder Einkommen.

Die Mehrheit der Menschen ordnet sich bei politischen Einstellungen der Mitte zu
Nils Kumkar, Soziologe

Eine repräsentative Befragung im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung von 2021 geht in eine ähnliche Richtung. In den Themen Klimawandel, Zusammenleben in kultureller Vielfalt und soziale Gerechtigkeit fand sich eine Bandbreite von unterschiedlichen Positionen. Trotz unterschiedlicher Sichtweisen teilt die Mehrheit der Bevölkerung aber grundlegende Werte. Ein Grundkonsens ist, dass Deutschland einen großen gesellschaftlichen Wandel benötigt, um den Klimawandel zu bewältigen.

Im Grunde zeigten alle Studien, dass die wissenschaftlich gemessene Polarisierung immer hinter der behaupteten Polarisierung zurückbleibt, so der Soziologe Nils Kumkar vom Socium-Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik an der Universität Bremen. „Die Meinungsverteilung in der Bevölkerung ist viel weniger polarisiert, als es in der öffentlichen Diskussion scheint.“ Und: „Es sind immer andere Gruppen und nicht, wie die Befürchtung der Spaltung suggeriert, immer die zwei gleichen Gruppen, die sich bei verschiedenen Themen unversöhnlich gegenüberstehen.“

Aber haben nicht spätestens die Corona-Maßnahmen während der Pandemie für eine Spaltung der Gesellschaft gesorgt? „In der Corona-Pandemie gab es zwar eine Gruppe, die die Corona-Maßnahmen sehr vehement abgelehnt hat“, sagt Kumkar, aber es habe auch hier keine zwei unversöhnlichen Lager gegeben. „Die These von der Polarisierung geht ja davon aus, dass die Gesellschaft in der Mitte gespalten ist und es zwei annähernd gleich große Lager gibt.“ Die meisten Menschen waren aber moderat eingestellt und wollten weder weniger noch mehr Maßnahmen. „Überhaupt ist es bei den meisten in Umfragen abgefragten politischen Einstellungen so, dass sich die Mehrheit der Mitte zuordnet.“

Eine Minderheit lehnt gesellschaftliche Vielfalt ab

Allerdings stieß die Studie der Bertelsmann Stiftung auf eine Gruppe, die einem gesellschaftlichen Konsens entgegensteht: Personen mit materialistischer Gesinnung, die politisch der AfD nahestehen. Sie fühlen sich selbst vom gesellschaftlichen Konsens entfernt und teilten teilweise nicht mehr die Werte einer liberalen Demokratie. Sie bilden auch den Großteil einer Minderheit, die gesellschaftliche Vielfalt gänzlich ablehnt. Es gibt also keine Spaltung der Gesellschaft, vielmehr eine Abspaltung einer rechtspopulistischen, unzufriedenen Minderheit.

Talkshows leben von intensivem Streit

Doch wenn es keine Belege für eine echte gesellschaftliche Spaltung gibt, warum glauben wir dennoch daran? „Die These von der polarisierten Gesellschaft kommt einer bestimmten Form der Berichterstattung sehr entgegen“, sagt der Soziologe. „Denken wir an Talkshows, die davon leben, dass sich Menschen streiten.“ Das erzeuge den Eindruck einer Polarisierung. Die Medien spielen hier also eine Rolle und auch die sozialen Medien. Jeder, der sich zu politischen Themen in den sozialen Medien äußert, ist gezwungen, Stellung zu beziehen, um Gehör zu finden.

Zudem spielt unser politisches System eine Rolle, in dem es eine Regierung und eine Opposition gibt. „Die Politikvertreter müssen ihrem politischen Programm die Weihe verleihen, indem sie behaupten, hinter ihnen stehe die Bevölkerung“, so Kumkar. Da Regierung und Opposition das jeweils für sich behaupten, entstehe leicht der Eindruck, es gebe zwei annähernd gleich große Lager. „Dabei haben die meisten Menschen zu den meisten Themen keine dezidierte Meinung.“ (RND)


Konträre politische Meinungen aushalten

Der Abbruch von Kontakten aufgrund politischer Meinungsverschiedenheiten ist selten. Nur 13 Prozent der Deutschen stimmen der Aussage „Zu bestimmten Menschen habe ich den Kontakt wegen ihrer politischen Ansichten abgebrochen“ voll und ganz oder eher zu. Der Anteil habe sich in der Corona-Pandemie nicht verändert. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „Politische Polarisierung in Deutschland“ der Konrad-Adenauer-Stiftung von 2021. Laut der Studie brechen Anhängerinnen und Anhänger der Linken, der Grünen und der SPD häufiger einen Kontakt ab.


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