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Kampfsport in KölnWing Chun: Sport mit Hand und Fuß

Lesezeit 4 Minuten

Beim Wing Chun geht es darum, den Gegner schnell auszuschalten. Jede Körperstelle bietet potenzielle Angriffsflächen.

Die Komplexität der chinesischen Kampfkunst Wing Chun zeigt sich bereits bei der Übersetzung der Schriftzeichen ins romanische Sprachsystem. Aus dem Kantonesischen übersetzt bedeutet der Name soviel wie „Immerwährender Frühling“ oder „Ode an den Frühling“. Transkribiert ergeben die Zeichen das Wort „Yongchun“. Genannt wird der Sport trotzdem nicht so – er hat viele verschiedene Bezeichnungen. Schon mit der Vielzahl der Schreibweisen – unterschiedliche Schulen bieten Wing-Chun-Unterricht auch als Wing Tsun, Ving Tsun oder Ving Chun an – wird deutlich, dass sich die Kampfkunst stetig verändert.

Keine starren Strukturen

Im Gegensatz zu vielen anderen (asiatischen) Kampfsportarten gibt es beim Wing Chun nicht nur ein einheitliches System und keine starren, vorgegebenen Strukturen, nach denen diese Stilrichtung des Kung-Fu erlernt und vermittelt werden kann. Stattdessen haben im Laufe der Jahre mehrere Meister (Sifu) das Wing Chun auf ihre Art modifiziert und angepasst. Der Sifu gab seine Lehre stets an ausgewählte Schüler weiter.

Die jüngere Geschichte der Kampfkunst prägte vor allem der Großmeister Yip Man (1893 bis 1972), der Wing Chun zunächst im chinesischen Foshan lernte und dort sowie später in Hongkong unterrichtete – auch Bruce Lee. Frei interpretiert entspricht der Name Wing Chun dem theoretischen Konzept, das der Kampfkunst als Prinzip zugrunde liegt – unabhängig von der Lehrvariante: „Verändere Dich mit den Veränderungen des Gegners“.

Das Ziel ist ein möglichst flexibles und schnelles Reagieren auf den Verlauf eines Kampfes. Das geschieht hauptsächlich mit Armen und Beinen. Fauststöße, Handkantenschläge und Fingerstiche sind die Techniken im Wing Chun – auch Tritte gehören zu den Charakteristika des Kampfstils. Varianten, die höher als bis zur Hüftregion des Gegners reichen, sind in den meisten Schulen aber selten. „Ich nehme meine Waffen immer mit mir“, beschreibt Sifu Jürgen Küpper das Konzept, möglichst spontan auf Veränderungen im Kampfverlauf reagieren zu können, „dafür brauche ich vor allem eine gute Übersicht – in alle Richtungen“.

Der 44-Jährige aus Bensberg ist Meister (Sifu) fünften Grades nach dem System der Europäischen Wing-Tsun-Organisation (EWTO), einem Dachverband, zu dem sich deutsche und internationale Schulen zusammengeschlossen haben. Erst wer die Kampfkunst mit körperlichen Mitteln erfasst und zur Meisterschaft gebracht hat, kann das Wing Chun mit Waffen wie dem Langstock oder zwei traditionellen chinesischen Doppelmessern ergänzen.

Kraft aus der Körpermitte

Die wichtigsten Techniken (Kuen Kuits), die das Wing Chun unabhängig von den Stilausrichtungen vermittelt, sind flüssige Wendungen des Körpers und Schritttechniken, die die Angriffe und die Kraft des Gegners zunächst neutralisieren und möglichst gegen ihn verwenden sollen. Entscheidend ist die richtige Standposition: Bei geradem Rücken und schulterbreitem Abstand der Beine werden die Knie und Zehen leicht einwärts gedreht.

„Zentraler Punkt zum Schöpfen der Kraft ist die Körpermitte“, erläutert Sifu Küpper. Die geöffneten Hände befinden sich versetzt hintereinander vor dem Körper, Ellbogen, Taille und Schultern werden leicht gesenkt. „Die Position ist wichtig, denn fast alle Techniken bauen darauf auf“, so Küpper. Die Effizienz des Wing Chun bestehe gerade darin, dass nicht die reine Kraft, sondern die fließende Bewegung auch vermeintlich körperlich Unterlegenen im Kampf einen entscheidenden Vorteil verschafft.

2006 hat Küpper die Wing-Tsun-Akademie in Ehrenfeld eröffnet. Dort vermittelt er den Schülern insbesondere durch Körpertraining, ihre Bewegungsästhetik zu verbessern. Der Fokus liegt auf der Praxis, paarweise werden verschiedene Formen einstudiert – im Wing Chun sind das vor allem das Siu Nim Tau (Kleine Idee), das Cham Kiu (Brücke bauen) und das Bju Tze (Stoßende Finger).

Obwohl das Üben mit Partnern wichtiger Bestandteil des Wing Chun ist, trainieren die Schüler die Techniken auch an einer Holzpuppe, dem sogenannten Muk Yan Jong – einem knapp 1,50 Meter hohen Holzrumpf, aus dem in alle Richtungen vier bis sechs astähnliche Arme hervorragen. „Das hilft, um Fehler in der Technik zu beheben“, erläutert Küpper.

Der Sifu hat das Wing Chun Ende der 80er Jahre gelernt, zu einer Zeit, in der die Kampfkunst außerhalb Chinas erst langsam Bekanntheit erlangte – nicht zuletzt durch den Erfolg der Martial-Arts- und Kung-Fu-Filme mit Bruce Lee und Jackie Chan.

Diese Anziehungskraft des Kung-Fu hat auch Sven Dittrich etwa zur selben Zeit zum Wing Chun gebracht. Er ist Sifu der Lok-Yiu-Wing-Chun-Schulen Köln, dessen Name und Kampfsystem sich von einem Schüler Yip Mans ableitet, „Neben dem körperlichen Training ist Wing Chun auch eine geistige Lehre“, sagt Dittrich. „Es geht um die Haltung, die man generell einnimmt.“ Die zentrale Erkenntnis für ihn sei, dass man nie ausgelernt habe: „Nur, wer sich immer weiterentwickeln will und offen ist, kann es zur Meisterschaft bringen“, sagt der 45-Jährige. Das beziehe sich nicht nur auf regelmäßiges Wing-Chun-Training – sondern auf das gesamte Leben.