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Kampfsport-Serie: Teil IIKarate in Köln - Kämpfen ohne Gegner

Lesezeit 4 Minuten

Lernen am Vorbild: Im Karate geht es um die Koordination von Bewegungen.

Dampfend vor Anstrengung bilden am Ende alle einen Kreis. Gerade noch haben sie sich breitbeinig gegenüber gestanden und eine Batterie von Faustschlägen abgefeuert. Jetzt sitzen die neun Jugendlichen und ihr Trainer in ihren weißen Hosen und Jacken aus grobem Segeltuch am Boden. „Mokuso!“, ruft Karatelehrer Stefan Boigk auf Japanisch, und alle schließen die Augen. Nach einer Minute im Schweigen sagt er: „Yame!“, Augen auf, „Rei“, Verbeugung. Alle springen auf. Die Kurzmeditation Mokuso ist ein festes Ritual, das weltweit jedes Karatetraining eröffnet und beendet.

Boigk hat langjährige Erfahrung

Nach dem Training sitzt Stefan Boigk an einem Holztisch im Vorraum seines Matsunoki-Dojos in der Kölner Südstadt. Dojo, so heißt im Japanischen ein Raum, in dem das „Do“, der Weg, geübt wird. Karate – ursprünglich Karate-do – ist so ein Weg, auf dem Stefan Boigk seit mehr als 30 Jahren unterwegs ist. Auf einem Stövchen vor ihm steht eine bauchige Teekanne, umringt von einem Heiligenschein umgedrehter Tassen.

Im Karate geht es nicht um die Gurtfarbe

Der 46-Jährige trägt noch den Gi, den weißen Karateanzug, bestehend aus Jacke, Hose und Gürtel. Anders als in den meisten Karateschulen ist sein Gürtel weiß. Im Matsunoki-Dojo gibt es keine Gurtfarben, die den Grad eines Übenden anzeigen. „Ich habe früher Graduierungskarate gemacht und erlebt, dass das Training oft zu 90 Prozent auf die nächste Gürtelprüfung ausgerichtet ist“, sagt Stefan Boigk. Für Ausnahmeübungen und spezielle Trainingsschwerpunkte bleibe da wenig Raum. Und eigentlich gehe es im Karate um anderes als um die Gurtfarbe.

WHO zeichnet Karate aus

Zum Beispiel um Gesundheit. 2003 wurde Karate von der Weltgesundheitsorganisation WHO als gesundheitsfördernder Sport anerkannt. „Karate ist eine sehr umfassende Sportart, die den ganzen Körper fordert und Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit und Reaktionsvermögen schult“, erklärt Elisabeth Bork, Breitensportkoordinatorin im Karate-Dachverband NRW. Weil man sich bei allen Techniken auf Hände, Füße, Körperhaltung, Blick, Atmung und vieles mehr gleichzeitig konzentrieren müsse, schule das Training vor allem die Koordination und das Gleichgewicht.

Gutes Gedächtnistraining

Zudem beuge man Rückenbeschwerden vor und entwickle einen festen Stand, was sich auch in den Alltag übertrage, so Bork. Dass das Üben von Karate-Bewegungen zudem ein gutes Gedächtnistraining ist, belegte kürzlich eine Studie der Universität Regensburg: 48 Senioren im Alter von 67 bis 93 Jahren konnten schon nach vier Wochen Karatetraining ihre Merkfähigkeit messbar steigern – ihre Stimmung besserte sich ebenfalls.

Karate üben- auch ohne Partner

Ein Unterschied zu anderen Kampfkünsten sei, dass man Karate auch allein üben könne, sagt Stefan Boigk. Er fing als Achtjähriger zunächst mit Judo an und wechselte nach einigen Jahren zum Karate. „Beim Judo fehlte mir der Aspekt des Schlagens und Tretens – und mich störte, dass man immer einen Partner braucht“, sagt er. „Im Karate habe ich immer ein Repertoire von 20 Katas im Kopf, mit denen ich mich auf einer einsamen Insel beschäftigen könnte.“

Katas als Teil des Karatetrainings

Die Katas, Formenläufe mit festgelegten Bewegungen, sind so etwas wie das Herzstück des Karatetrainings. Konzipiert als Kämpfe gegen einen imaginären Gegner, enthalten sie eine feste Abfolge von Angriffs- und Abwehrtechniken, Drehungen und Schrittfolgen. Gichin Funakoshi, der Gründer des modernen Shotokan-Karate, ordnete Anfang des 20. Jahrhunderts Dutzende überlieferter Katas neu, die im Schwierigkeitsgrad variieren. Alle enthalten verschiedene Faustschläge (Zukis), Tritte (Geris), Angriffe und Blöcke – eine Art Gedächtnisstütze aus der Zeit, als die Kampfkunst der „leeren Hand“ (siehe Kasten) noch ohne schriftliche Aufzeichnungen weitergegeben wurde. Früher habe er Katas gehasst, sagt Stefan Boigk. „Heute liebe ich es, alleine zu trainieren, in einem Dojo, auf einer Wiese oder im Wald.“

Schläge werden abgestoppt

Katas machen nur einen Teil des Karatetrainings aus. Nach dem sogenannten Angrüßen – der Verbeugung vor dem Dojo – und der Kurzmeditation beginnt jede Übungsstunde zunächst mit dem Aufwärmen. Dann folgen die Grundschultechniken (Kihon) und der Partnerkampf (Kumite). Daneben gibt es immer wieder Blöcke mit Kraft-, Ausdauer- und Wahrnehmungsübungen. „Verletzungen sind sehr selten“, sagt Stefan Boigk. Schließlich müssen alle Schläge und Tritte vor dem Körper abgestoppt werden.

Selbstdisziplin- und Überwindung als wichtiger Faktor

Der Weg des Karate besteht allerdings aus mehr als Kondition und Koordination. „Selbstdisziplin zum Beispiel“, sagt Boigk. Im Training nichts zu trinken, nicht unnötig zu reden und nicht einfach aus dem Raum zu verschwinden – das gehört im Matsunoki-Dojo schon in Kinderkursen zur Etikette. Genau wie gegenseitiger Respekt.

„Karate ist für alle da“

„Karate ist für alle da“ lautet eine der Dojo-Regeln, die alle Kinder vor dem Training laut aufsagen. Für Erwachsene gehört zum Karate auch eine Tugend, die aus dem westlichen Wertekanon fast verschwunden ist: Selbstüberwindung. „An Übungseinheiten, in denen ich über meine körperlichen Grenzen gehen musste, habe ich mich später in schwierigen Situationen oft aufgerichtet“, sagt Boigk. „Für mich, der auch Schattenseiten im Leben kennt, hat das Karate sehr viel gedreht.“

Karate zur Selbstverteidigung?

Und was ist mit der Selbstverteidigung? Natürlich könne man sich mit Karate zur Wehr setzen, sagt Trainer Boigk. Wichtiger seien aber die Veränderungen der Haltung, die das Training in Gang setzt: „Man tritt selbstsicherer auf und kommt allein deswegen seltener in die Opferrolle.“