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Kontrolliert essenZurück zu Maß und Mitte

Lesezeit 4 Minuten

Und ewig lockt die Eistüte - nur auf dem Hunger hören will gelernt sein.

Silke Schneider war eigentlich immer ganz zufrieden mit sich. Die Mutter hatte zwar oft an ihr herumgenörgelt, sie zum Sport und schon mit zwölf Jahren zur Ernährungsberatung geschickt. Aber als Jugendliche hatte die heute 21-Jährige nicht das Gefühl, ein Essproblem zu haben. „Ich fühlte mich nie als dickes Kind, wurde weder gehänselt noch gemobbt. Außerdem ging ich zum Tennis und zum Ballett. Aber gegessen habe ich schon viel, besonders wenn ich mittags ausgehungert aus der Schule kam“, erinnert sich die Studentin, die gar nicht Silke Schneider heißt. „Ich möchte nicht für alle wiedererkennbar sein und dann nur noch auf mein Gewicht reduziert werden. Gleichzeitig möchte ich von meiner persönlichen Entwicklung berichten, auf die ich ja auch stolz bin, und anderen damit vielleicht Mut machen.“

Jedes zweite Mädchen unzufrieden

Laut einer Studie der Uni Bielefeld findet sich jedes zweite Mädchen und jeder dritte Junge im Alter von 15 Jahren zu dick. Vielleicht war es Zufall, dass Silke Schneider mit 15 Jahren aufhörte, sich zu wiegen. „Ich wollte es einfach nicht wissen. Ich fühlte mich ja nicht unwohl, alles war in Ordnung.“

Als sie nach dem Abi aus ihrer Heimatstadt und in Köln zum ersten Mal eine eigene Wohnung bezog, verschärfte sich das Problem. Sie frühstückte nebenbei, kochte nie zu Hause, machte gar keinen Sport mehr. „Ich verfiel in eine Starre, fühlte mich in der neuen Wohnung nicht wohl, verpflegte mich nur bei Imbissen und Bäckereien und hatte trotzdem immer das Gefühl, nicht satt geworden zu sein.“ Hinzu kamen aufgepeppte Kaffeegetränke mit viel Zucker und zwischendurch immer wieder Schokolade.

1,65 Meter groß, 90 Kilo schwer

„Süß muss einfach sein.“ Einmal ging sie noch bei ihrem Freund auf die Waage: 90 Kilo bei einer Körpergröße von 1,65 Meter, Kleidergröße 46. „Das war vor etwa zwei Jahren. Da war ich schon geschockt.“ Eine Zeit lang machte sie noch so weiter. Als dann wegen Turbulenzen im Elternhaus auch noch psychische Probleme hinzukamen, holte sie sich Hilfe. „Ich wollte aufräumen, im Kopf und im Körper.“ Eine Psychologin schickte sie zur Ernährungsberatung.

Therapie

Über Umwege landete sie bei Karen Nespethal, die bei Silke Schneider keine besondere Essstörung feststellte, dafür aber eine Adipositas der Stufe II (siehe Kasten rechts oben). Ihr Body-Mass-Index lag bei 37. Als Erstes schickte die Therapeutin Silke Schneider zu einer BIA-Messung. Bei dieser Bioelektrischen Impedanzanalyse wird ermittelt, wie hoch der Wasser-, Muskel- und Fettanteil des Körpers ist. „Das ist wichtig, um geeignete diätetische Maßnahmen zu ergreifen“, sagt Nespethal. „Ich stochere nicht gerne im Trüben.“

Der Body-Mass-Index ist Grundlage für die Klassifizierung von Übergewicht. Laut WHO gelten Menschen mit einem BMI ab 25 als übergewichtig, adipös sind Menschen mit einem BMI ab 30, ab 35 spricht man von Adipositas Grad II. Der BMI errechnet sich, indem man das Körpergewicht durch die Körpergröße zum Quadrat teilt. Der BMI ist als einziges Maß für die Qualifizierung von Übergewicht inzwischen umstritten. Auch die Verteilung des Gewichts spiele nach Meinung von Kritikern eine Rolle, wobei das Verhältnis des Körperfetts an der Hüfte im Vergleich zum Bauch (Waist-to-hip ratio) zum Tragen komme. Sie gebe mehr Aufschluss über Risikofaktoren etwa in Bezug auf Herz-Kreislauf-Krankheiten.

Zu diesem Zeitpunkt hatte Silke Schneider die 100-Kilo-Marke geknackt: 101 Kilo ist in den Unterlagen der Therapeutin vermerkt. Gemeinsam analysierten sie dann das Essverhalten. Schneider musste eine Woche lang akribisch Buch führen über ihre Nahrungsaufnahme. Ein Tag sah dann schon mal so aus: morgens ein Croissant, kurz darauf ein Smoothie mit Wiener Würstchen, mittags Nudeln mit Hühnchen, abends Reibekuchen mit Apfelmus und hinterher noch ein süßes Kaffeegetränk vom amerikanischen Coffeeshop.

Selbstwahrnehmung neu schulen

Zwischendurch gab es süße Getränke, Schokolade, Käse und andere fetthaltige Snacks. „Ich hatte vollkommen das Gefühl für Maß und Mengen verloren“, sagt Schneider rückblickend. Deshalb arbeitete sie mit Karen Nespethal gezielt an der Selbstwahrnehmung, um wieder ein Gefühl für Hunger und Sättigung zu bekommen. „Ideal ist zu essen, wenn man Hunger hat, und aufzuhören, wenn man satt ist“, sagt Nespethal.

Emotionaler Hunger

Aber genau das ist oft die Schwierigkeit. Ist der Hunger tatsächlich körperlich oder Ausdruck eines seelischen Mangels? Will ich essen, weil ich Trost, Belohnung oder Beschäftigung brauche? Genau diese Unterscheidung und das genaue In-sich-Hineinhorchen müssen übergewichtige Menschen oft erst wieder lernen. Und auch die Frage: Was reicht jetzt, um den Hunger zu befriedigen? Muss es die Pommes mit Majo sein oder reicht vielleicht ein Apfel? Inzwischen wiegt Silke Schneider 86 Kilo. In sieben Monaten hat sie 15 Kilo abgenommen. Sie geht mindestens einmal die Woche ins Fitness-Studio. Der Erfolg: ihr passen wieder Kleider in Größe 44. „Die Elefantenhosen habe ich aussortiert.“ Und Schokolade? „Die gönne ich mir immer noch, aber nur richtig Gute und ganz bewusst.“ Ein großes Ziel hat sie noch: „Einen BMI unter 30. Ich will raus aus der Adipositas.“