Meditation im Alltag„Das Alles-ist-neu-Gefühl“

Georg Lolos hat in einem Kloster gelernt, sich ganz in sich selbst zu vertiefen.
Copyright: Jörn Neumann Lizenz
Herr Lolos, Sie haben vor Jahren quasi von heute auf morgen Ihren Job als TV-Journalist und Ihre Wohnung in Köln gekündigt, um in ein buddhistisches Kloster nach Südfrankreich zu ziehen. Wie kommt man auf so was?
Georg Lolos Mir ging es damals nicht gut. Ich war nicht glücklich. Ich hatte zwar keine diagnostizierte Depression, aber rückblickend würde man meinen Zustand wohl ausgebrannt nennen. Damals, 1999, war ich Anfang 30. Da erzählte mir ein Freund, dass es in Südfrankreich ein Kloster gebe, in dem man einfach eine Woche entspannen könne.
Hatten Sie vorher schon etwas mit Meditation zu tun?
Lolos Nie. Ich hatte keine Ahnung vom Buddhismus. Ich kannte auch Thich Nhat Hanh nicht, den Lehrer, der das Kloster gegründet hat. Ich wollte einfach den Millenniumswechsel dort verbringen, während meine Freunde nach New York oder Venedig reisten, um zu feiern.
Wie muss man sich das Kloster vorstellen, in dem Sie schließlich drei Jahre blieben?
Lolos Plum Village liegt zwischen Bordeaux und Bergerac, umgeben von Weinbaugebieten. Die Häuser, in denen die Mönche und Nonnen wohnen, sind Bauernhäuser aus Stein. Drumherum ist nichts – die nächste Stadt ist 20 Kilometer entfernt. Es ist ein riesiges Gelände, hügelig und zum Teil bewaldet, in dem man ewig spazieren gehen kann.
Wie war Ihr erster Eindruck vom Leben dort?
Lolos Mein erster Gedanke war: Warum habe ich so was nicht in der Schule gelernt? Diese Praxis des achtsamen Lebens, die dort gelebt wird. Als ich nach einer Woche zurück nach Deutschland kam, war mir klar: Da muss ich wieder hin. Innerhalb von ein paar Monaten habe ich in Köln alles aufgelöst und bin mit einem Rucksack und einer Tasche wieder runtergefahren.
War klar, dass Sie lange bleiben?
Lolos Ja. Aber nicht, wie lange.
Wie hat Ihr Umfeld in Köln reagiert?
Lolos Unterschiedlich. Manche fanden das mutig – wobei ich mich selbst gar nicht so mutig fand. Ich würde eher sagen: Ich hatte keine Wahl. Natürlich waren viele traurig und haben meinen Schritt nicht verstanden. Einige haben ihn auch als Ablehnung empfunden, nach dem Motto: Ist unser Lebensstil nicht gut genug für dich?
Ist es für Laien einfach so möglich, in ein buddhistisches Kloster zu ziehen?
Lolos Eigentlich nur, wenn man bereit ist, selbst Mönch zu werden. Das hieß in der Tradition meines Klosters: Du bekommst die Haare abrasiert und verpflichtest dich, lebenslang Mönch zu sein.
Sie haben aber noch Haare. . .
Lolos Ich bin ja auch nicht Mönch geworden. Ich war die ganze Zeit in meinem normalen Haare- und Jeanshosen-Outfit dort – als einer der ganz wenigen Laien, denen erlaubt wurde, für längere Zeit und ohne Bezahlung dort zu leben. Die haben bei mir wohl gedacht: Warte, der wird noch mal irgendwann Mönch.
Praktische Tipps für Zuhause
Meditation muss nicht auf dem Sitzkissen stattfinden. Auch im Alltag kann man Achtsamkeit trainieren. Zum Beispiel mit diesen Übungen von Georg Lolos:
Diese Meditation zur Mini-Entspannung können Sie überall üben. Für nur eine oder auch fünf Minuten.
Nehmen Sie wahr, wie die Atmung in den Körper fließt und den Körper wieder verlässt. (mindestens drei Atemzüge)
Spüren Sie Ihre Füße. Womit haben sie Kontakt? Mit Schuhen, Strümpfen, Boden? Sind sie warm oder kalt? Nehmen Sie so präzise wahr wie möglich. (drei Atemzüge)
Spüren Sie jetzt Ihr Becken und Ihre Sitzknochen. Entspannen Sie das Becken. (drei Atemzüge)
Erlauben Sie den Ellenbogen, schwer zu werden, und den Schultern, sich zu entspannen. (drei Atemzüge)
Spüren Sie Ihre Hände. Lassen Sie sie schwer werden. (drei Atemzüge)
Bewegen Sie sanft den Unterkiefer von links nach rechts, so dass sich die Kaumuskeln entspannen können. (drei Atemzüge)
Entspannen Sie die Stelle zwischen den Augenbrauen. (drei Atemzüge)
Nutzen Sie die Zeit an einer roten Ampel oder an der Supermarktkasse, um zurück ins Hier und Jetzt zu kommen. Jedes Mal, wenn Sie warten müssen, erlauben Sie sich einige Atemzüge zu nehmen, ihren Körper zu spüren und Anspannungen loszulassen. Wenn Sie mit Ihren Gedanken in der Vergangenheit oder bei To-do-Listen sind, lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit bewusst auf den jetzigen Augenblick. Was sehen, hören, spüren, fühlen Sie gerade? Das Motto dieser Stopp-Meditation: Atmen statt warten.
Sie wurden keiner, blieben aber drei Jahre. Wie sah Ihr Alltag aus?
Lolos Aufstehen war in der Regel zwischen vier und fünf Uhr. Als Erstes ging es dann zur Sitzmeditation in die Meditationshalle. Die findet im Schweigen statt, genau wie das anschließende Frühstück. Erst danach darf geredet werden, wenn jeder an seine Aufgaben geht.
Was haben Sie gemacht?
Lolos Ich habe im Büro gearbeitet, aber ich habe auch Seminare besucht. Das Besondere war: Es wird versucht, alles achtsam zu machen, alles als Meditation zu verstehen.
Was bedeutet das?
Lolos Zum Beispiel, dass ich mir beim Teetrinken bewusst bin, dass ich mit meiner Hand die Tasse hier hebe. Ich bin mir bewusst, dass ich die Gabel in der Hand halte, dass ich kaue. Ich bin die ganze Zeit anwesend und nicht mit meinen Gedanken irgendwo anders. Das Gleiche gilt, wenn man abspült oder die Toilette putzt. Man ist angehalten, mit einem Teil seiner Aufmerksamkeit immer der Atmung zu folgen.
Ist Ihnen das nicht schwergefallen?
Lolos Nicht schwer im Sinne von: Das ist aber kompliziert. Es ist ja nichts dabei, auf seinen Atem zu achten. Das Schwierige ist, sich immer wieder daran zu erinnern.
Haben Sie sich nie gefragt: Und das soll ich jetzt für den Rest meines Lebens machen? Man wäre ja mit seiner Aufmerksamkeit auch gern mal komplett woanders.
Lolos Die Frage habe ich mir, ganz ehrlich, nie gestellt. Weil ich schnell begriffen habe, dass es das Wichtigste ist, was ich tun kann. Ich putze mir ja auch jeden Tag die Zähne und dusche. Fakt ist: Ich könnte auch glücklich vor mich hin stinken, wenn ich nicht dusche. Aber ich kann nicht glücklich sein, wenn ich mich nicht um meine inneren Zustände kümmere.
Warum?
Lolos Weil alles vom Bewusstseinszustand abhängt, in dem man sich befindet. Wie man sich entscheidet, was man konsumiert, wie man mit seinen Mitmenschen umgeht. Deswegen sollte sich eigentlich jeder um seine Bewusstseinszustände kümmern.
Fiel Ihnen die Umstellung auf den Klosteralltag schwer?
Lolos Nein. Ich habe sofort genossen, was er bewirkt: die Stille in mir, nicht die ganze Zeit in Sorgenschleifen festzustecken.
Wie fühlt sich Achtsamkeit denn an?
Lolos Das lässt sich nicht vermitteln. Wie erklärt man jemandem, wie eine Banane schmeckt? Ich kann ihn nur ein Stück Banane probieren lassen – dann weiß er, was ich meine. Aber es ist schwierig, jemandem zu vermitteln, was für eine Erfahrung man macht, wenn man wirklich ins Hier und Jetzt eintaucht.
Klingt esoterisch. Was verändert sich denn konkret?
Lolos Schon nach der ersten Woche hatte ich das Gefühl: Ich bin drei Monate weggewesen. Meine Zeitwahrnehmung hatte sich ein bisschen verschoben. Es war plötzlich ein Gefühl da, wie Kinder es haben: Alles ist neu.
Achtsamkeit verändert also das Zeitempfinden?
Lolos Ja. Wenn ich alles als neu wahrnehme – was es ja letztlich ist in diesem Augenblick –, dann dehnt sich die Zeit. Auch für Kinder ist ja alles neu. Deswegen haben wir als Kind auch das Gefühl, so viel Zeit zu haben. Später kommen wir in den „Kenn ich schon“-Modus. Und die Zeit rast.
Was unterscheidet denn einen achtsamen Griff zur Teetasse von einem unachtsamen?
Lolos Bist du anwesend oder abwesend? Bist du wirklich zu 100 Prozent bei dem, was du tust oder nicht? Das nimmt nach einer Zeit jeder wahr. Wenn mir heute Leute auf der Straße entgegenkommen, sehe ich genau, wer mit seinen Gedanken woanders ist. Es gibt nicht viele, die wirklich da sind.
Jeder Augenblick zählt
Ich kann mir nur schwer vorstellen, wirklich jeden Augenblick präsent zu sein. . .
Lolos Sie können es nicht andauernd, ich kann es auch nicht – darum geht es auch nicht. Es geht darum zu versuchen, so oft wie möglich am Tag präsent zu sein. Achtsamkeit ist wie ein Muskel, den man trainieren muss. Je mehr man trainiert, desto selbstverständlicher wird sie. Wenn ich lange nicht achtsam bin, fühlt sich das an, als hätte ich mir die Zähne nicht geputzt.
Im Kloster funktioniert die Erinnerung an die Achtsamkeit meist über Glocken. Gibt es solche Tricks auch im normalen Alltag?
Lolos Ich empfehle Glocken-Apps fürs Smartphone oder Gongs für den Rechner. Im Kloster-Büro hatten wir ein Programm, das alle 15 Minuten die Tastatur blockierte.
Um Sie woran zu erinnern?
Lolos Daran wahrzunehmen, was hier und jetzt passiert: Was macht mein Körper, was machen meine Gefühle, wo bin ich gerade mit meinen Gedanken? In der To-do-Liste, in Ärger- oder Sorgenschleifen? Oder entspannt im Hier und Jetzt?
Und was tun, wenn man sich bei einer Sorgenschleife ertappt?
Lolos Dann sollte man das beobachten – nicht wertend, sondern aus einer wohlwollenden Perspektive heraus. Allein dadurch, dass man einen Schritt zurücktritt, entsteht eine Veränderung. Man bekommt mehr Luft, mehr Freiheit. Weil man nicht mehr gefangen ist in seinem Irrsinn.