GesellschaftDer Form halber

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Frau Gottfried, die Unterwäsche vor dem ersten Büstenhalter war für die Frauen geradezu ein Gesundheitsrisiko. Wie kam es dazu?
Claudia Gottfried: Im 18. Jahrhundert wurde die Frau in ein Korsett geschnürt, was vor allem der Betonung der weiblichen Formen diente. Im 19. Jahrhundert wurde das Korsett von der bürgerlichen Gesellschaft in verschiedenen modischen Ausprägungen übernommen. Es ging immer darum, Po, Brust und Taille hervorzuheben. Das galt als erotisch. Aber es hatte auch eine andere Bedeutung. Es repräsentierte das Wertesystem des Bürgertums, das auf Tugenden wie Sauberkeit, Fleiß, Ordnung – und Maß halten beruhte.
Claudia Gottfried ist Leiterin des LVR-Industriemuseums Ratingen und Kuratorin der Ausstellung „Reiz und Scham“.
Wie funktionierte das genau?
Gottfried: Zum Beispiel schnürte sich die Frau vor dem Essen, damit nicht so viel in den Magen passte. Mit einer schmalen Taille zeigte sie an, dass sie die Tugenden beherrschte. Die dicke Frau hingegen war liederlich. Hinter dieser Mode verbarg sich auch eine massive Kritik an der höfischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, die schlemmte und prasste. Irgendwann wurde der Taillenumfang von 46 Zentimeter zu einem Ideal. Sie sollte von zwei Männerhänden umfasst werden können.
Das ist ja nichts.
Gottfried: Das ist gar nichts. Das konnte nur erreichen, wer als Kind schon mit dem Schnüren anfing. Denn eine derart schmale Taille ist nur mit verbogenen Rippen möglich. Hungern reicht da nicht aus.
Wem haben wir die Befreiung zu verdanken?
Gottfried: Kritik kam von verschiedenen Ärzten, die Schäden an Organen feststellten. Selbst in der Schwangerschaft wurde ja noch geschnürt.
Was ist mit den ersten Frauenbewegungen im 19. Jahrhundert?
Gottfried: Denen ging es zunächst in der Tat nicht nur um politische Rechte, sondern um die Reform der Frauenbekleidung. Sie richteten sich auch gegen die gesamte Stoffmenge, die sie immer mit sich herumtragen mussten, und setzten sich ganz wörtlich für mehr Bewegungsfreiheit ein. Die Kleidung wurde zum Symbol des Aufbruchs. Außerdem änderte sich die wirtschaftliche Situation: Einige Frauen mussten, andere wollten arbeiten. Das ging nicht im Schleppkleid. Das alles passierte noch vor dem Ersten Weltkrieg. In dieser Zeit tauchte zum ersten Mal der BH auf.
Wie sah der aus?
Gottfried: Der wurde zunächst wie ein Korsett getragen. Also nicht auf der nackten Haut, sondern zur Schonung des Büstenhalters über einem Hemd. Das wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg anders gehandhabt, in den 20ern, als die Mode radikal revolutioniert wurde. Da schnitten sich die Frauen die Haare ab, trugen Hosen, zeigten Bein und strebten eine androgyne Form an. Es ging darum, die Brüste wegzudrücken. Deshalb erinnern die BHs aus der Zeit eher an eine Binde. Die Charleston-Kleider sähen ja mit Figur auch schrecklich aus. Je zweidimensionaler man war, desto besser.
Heute vor hundert Jahren erhielt die Amerikanerin Marie Phelps Jacobs das Patent für ihren Büstenhalter, der dem heutigen Standard-Modell am nächsten kommt. Auch vorher gab es bereits ähnliche Erfindungen, die aber keine weite Verbreitung fanden. Darunter ein Modell aus Dresden, bestehend aus zwei Taschentüchern, die mit Männerhosenträgern befestigt wurden. Einen Überblick über die Geschichte der Unterwäsche zeigt die Wanderausstellung „Reiz und Scham“. Zu sehen vom 7.4. bis 26.10.2015 im LVR-Industriemuseum Engelskirchen.www.industriemuseum.lvr.de
Wann kamen die Spitztüten-BHs in Mode?
Gottfried: Da kommen mehrere Dinge zusammen: Erstens gingen die Leute in die Kinos und orientierten sich an den Filmdiven, die ganz körpernahe Kleider und spitze BHs trugen. Dann trumpfte die chemische Industrie mit dem Angebot von Wäsche aus Kunstseide auf, die auch unter diese engen Kleider passten. Die Baumwollschlüpfer verschwanden, stattdessen gab es fließende Unterwäsche.
Die Ikonen wurden mit der Zeit üppiger, wieso?
Gottfried: In den 50ern kommt das sogenannte Korselett und mit ihm die Wespentaille zurück. Diese Rückkehr zu den weiblichen Formen wird immer mit der Sehnsucht nach heiler Welt und einer Ordnung erklärt, in der Frauen wieder als solche zu erkennen sind. Es war im Krieg ja alles durcheinandergeraten.
Das war den Frauen in den 70ern wiederum zu konservativ?
Gottfried: Für 68er-Frauen war der BH ein Symbol der Unterdrückung. In den USA wurden sogar BH-Verbrennungen organisiert. Hierzulande gab es den No-Bra. Ein Hauch von Nichts.
Welchen Einfluss hatte die Fitness-Bewegung etwa um Jane Fonda? Ohne BH hätte doch da niemand mitmachen können.
Gottfried: Ja, in den 80ern waren wieder mehrere Dinge ausschlaggebend. Frauen sagten sich, wir müssen nicht in Sack und Asche gehen. Wir können erfolgreich und attraktiv sein. Vorgelebt haben dies Frauen aus Serien wie „Denver Clan“ und „Dallas“. Die Devise lautete: Dress for Success. Zum ersten Mal tauchten auch Wäschestücke auf, die wie Ober- oder Sportbekleidung aussahen. Ich erinnere nur an die Bodys mit Rollkragen. Die Industrie kam außerdem mit neuer elastischer, stützender und nahtloser Unterwäsche. Dazu die hoch ausgeschnittenen Slips, die lange Beine machen. Erfolg sollte sich wieder am Körper ablesen lassen.
Maßhalten, wie früher.
Gottfried: Genau. Mit jedem Stückchen mehr Körper, das zu sehen ist, wird das Maßhalten mehr und mehr zu einer Frage der Disziplin. Früher wurde es vom Korsett erzwungen. Heute muss man Diät halten und turnen.
Welches Schönheitsideal stellt die Wäscheindustrie heute vor Herausforderungen?
Gottfried: Die Körperlichkeit wird immer stärker betont und die Ideale werden vielfach durch virtuelle Schönheiten geprägt. Diese sind niemals erreichbar, es sei denn, man hilft durch Kleidungsstücke wie zum Beispiel dem Push-up-BH nach. Oder durch Schönheitsoperationen. Von denen gibt es immer mehr.
Das Gespräch führte Ina Henrichs