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Jäger aus der RegionAuf Spurenlese im Revier

Lesezeit 7 Minuten

Bei der Treibjagd scheuchen mehrere Treiber und Hunde die Tiere hoch, direkt vor die Flinten der Jäger.

Sie werden enttäuscht sein: In dieser Geschichte wird nicht geschossen. Es stirbt kein Tier, es kläffen keine Hunde, kein Fasan fliegt aufgeregt aus dem Unterholz, es fließt kein Blut. Nichts. Am Ende meines Tages mit den Jägern habe ich vor allem eines gelernt: Um Jäger zu sein, braucht man Geduld, muss gut allein sein können und die Ruhe lieben. Michael Nimsch (45) ist Berufsfeuerwehrmann und Jagdaufseher im Revier Lessenich-Rißdorf. Er besitzt seinen Jagdschein seit 30 Jahren. Industriemechaniker Michael Blankenheim (44) jagt seit seinem 16. Lebensjahr und ist sein Stellvertreter. Beide sind drei- bis viermal in der Woche im Revier unterwegs.

Dann sitzen sie nach ihrem normalen Job vier Stunden in einem der Hochsitze – und blicken auf Wald und Flur. Jeder für sich. „In Vollmondnächten kann es sogar noch länger werden, weil es einfach so schön ist“, sagt Nimsch. Was seine Familie dazu sagt? Er lacht. Und schweigt. „Es ist die Ruhe, die ich so genieße. Das hilft mir, nach dem Beruf abzuschalten. So wie andere Leute joggen gehen, schaue ich in die Natur. Es ist einfach schön, draußen zu sein und zu beobachten.“ Dafür gibt es keine beste Jahreszeit: „Mir gefällt der Winter mit Frost, Schnee und klaren Mondnächten. Der Frühling, der alles grün macht. Der Sommer mit seiner Hitze, den Grillen und Glühwürmchen und der Herbst mit seinen bunten Farben.“

Meditation auf dem Hochsitz

Am meisten liebe er, wie die Eulen nachts rufen, bis vor den Hochsitz geflogen kommen, wenn er das Quietschen der Mäuse imitiert. Mit seiner Tochter hat er einmal einen stolzen Rothirsch gesehen. Er freut sich über die Wildschweinrotte, die am Morgen durch den Wald wandert. Und die Hasen, die im Feld herumtollen und sich aufrichten, sobald ein Fuchs vorbeikommt. „Mir war auf dem Hochsitz noch nie langweilig. Ich erwarte nichts und bin nicht ungeduldig. Es ist wie Meditation.“

Von diesem Zustand bin ich an meinem ersten Jagdtag weit entfernt. Gespannt stapfe ich mit Michael Nimsch über ein Feld zum ersten Hochsitz, auf den wir klettern. Stets geht er vor und überprüft auch die Leitersprossen, damit der Weg für mich sicher ist. Er öffnet die Tür des kleinen Bretterverschlages, klettert über eine Sitzbank und bittet mich hinein. Wir setzen uns, dann öffnet er die Fensterluken vorne und an der Seite. „Jetzt geht es los!“, freue ich mich. Plötzlich wird mir bewusst: Ich habe direkt nach Öffnen der Luken ein Actionprogramm auf dem Feld erwartet, als hätte ich gerade den Fernseher eingeschaltet. Ich beuge mich vor und blicke aufmerksam nach vorne, nach links, nach rechts. Und sehe: Nichts. Außer einem Feld und dem Waldrand. Enttäuscht lehne ich mich zurück.

Wildacker bietet Tieren Schutz

Nach etwa einer Viertelstunde ruhigen Schauens beginne ich, Details der Landschaft wahrzunehmen. Den Streifen mit den hoch gewachsenen Gräsern und Pflanzen, der aus dem abgeernteten Feld herausragt. „Das ist Wildacker“, erklärt mir Michael Nimsch. Und weiter: „Er wird extra angepflanzt, um den Tieren Schutz zu bieten. Wenn sie sich aus dem Wald auf das freie Feld herauswagen, werden sie hier nicht sofort gesehen.“ Je mehr Zeit vergeht, desto ruhiger werde ich, rutsche nicht mehr auf der Bank herum, schaue nicht mehr auf die Uhr. Ich sitze einfach. Es gefällt mir, in dieser kleinen Holzkiste hoch über dem Feld und nicht erreichbar zu sein. Nichts zu sehen außer den schmalen Streifen Natur, den die Luke in den Holzverschlag schneidet. Es beginnt zu regnen. „Da bleiben die Tiere gern im Wald“, sagt Nimsch.

Tierbeobachtung via Fernglas

Nach etwa zwei Stunden Nichts taucht plötzlich ein Hase auf dem Feld auf. Nimsch reicht mir sein Fernglas. Ich frage aufgeregt: „Und jetzt?“ Was will ich? Dass Nimsch auf das erste Tier schießt, dass ich zu sehen bekomme? Natürlich nicht. Und irgendwie doch. Er tut es natürlich nicht. Der Hase putzt sich ausgiebig die Regentropfen aus dem Fell. Ich beobachte ihn durchs Glas. Das muss reichen. Der Hase verschwindet. Eine Stunde später springt ein Reh mit seinem Kitz über das schwarze Feld und sucht Deckung im Wildackerstreifen.

Nimsch erzählt von der kleinen Familie, die er schon gut kennt. Als ein Spaziergänger mit Hund am Feldrand auftaucht, springen die Rehe fluchtartig davon. Mehr wird an diesem Tag nicht passieren. Dass es hier durchaus noch andere Tiere gibt, beweist Nimsch mit Handyfotos von Wildschweinfamilien und spielenden Dachsen. „Man bekommt viel zu sehen, wenn man mit offenen Augen durch den Wald geht.“ Manchmal nicht bloß Tiere. Im Kanzelbuch, einer Art Tagebuch, das in den Hochsitzen liegt, halten die Jäger ihre Beobachtungen fest: „21 Uhr: schwarzer Geländewagen fährt den Mais ab. Drei weitere Hasen auf Feld und Acker. 23.30 Uhr: Schmalrehe sind in den noch nicht geernteten Weizen gezogen. Zwei Reiter beenden ihr Schäferstündchen. Ich mache Schluss.“

Treibjagd mit und ohne Hund

In den allermeisten der sogenannten Ansitzjagden fällt kein Schuss. „Schießen ist der kleinste Teil der Jägertätigkeit, die wichtigsten Aufgaben sind die Wild- und Revierpflege“, sagt Nimsch. Es gibt aber auch Jagdarten, die weniger friedlich vonstatten gehen, allen voran die Treibjagd: Hier scheuchen mehrere Treiber und Hunde die Tiere hoch, direkt vor die Flinten der Jäger. Ein wenig ruhiger geht es bei der Drückjagd zu: Treiber gehen mit oder ohne Hunde ruhig durch Wald und Büsche, um die Tiere langsam in Bewegung zu bringen.

Auf Rehe wird nicht geschossen

Im Fokus steht dabei vor allem Schalenwild wie Geweihträger und Wildschweine, aber auch Füchse und Hasen. Bei der Treibjagd wird auf Niederwild geschossen, jedoch nicht auf Rehe. Zum Niederwild zählen außer Rehen noch Fasane, Kaninchen, Füchse, Dachse und Rebhühner. Als Hochwild bezeichnet man Rot-, Dam- und Sikawild, Muffel und Auerhähne. Die Bezeichnungen „nieder“ und „hoch“ stammen aus einer Zeit, als nur der Adel die edlen und statusbringenden Tiere, das Hochwild, schießen durfte und der Pöbel nur den niederen Rest. Das Lessenicher Jagdgebiet ist ein Mischrevier, es gibt hier sowohl Nieder- , als auch Hochwild.

Schonzeiten und Abschussverordnung

Als Jagdaufseher hat er freie Bahn im Revier, das er betreut, auch zu schießen, er muss sich aber an Schonzeiten und die Abschussverordnung halten. Taucht ein Tier vor seinem Fernglas auf, muss er es zuerst „ansprechen“, wie es in der Jägersprache heißt. Das bedeutet, dass er genau schauen muss, was er da vor sich hat: Ist das Tier alt oder jung? Männlich oder weiblich? Etwa tragend? Danach entscheidet er, ob das Tier geschossen werden darf oder nicht – entsprechend der Abschusspläne der Unteren Jagdbehörde. Dort ist festgelegt, wie viele Exemplare welcher Altersklasse pro Art und Jagdjahr aus dem Bestand genommen werden dürfen, damit sie sich nicht zu stark vermehren. Kranke Tiere dürfen auch abseits des Plans geschossen werden. Nimsch hat alle Vorgaben im Kopf. Wenn er auf die Jagd geht, führt er genau Buch darüber, was in seinem Revier bereits erlegt worden ist.

Als Jagdaufseher muss er den Überblick im Revier behalten. Dazu streift er regelmäßig durch das 384 Hektar große Gebiet und überprüft den Zustand der Bäume und Felder, repariert Zäune und Hochsitze. Wenn ein Tier vom Auto angefahren wird, muss er es beseitigen. Vor allem behält er im Auge, wie viel Wild es in seinem Revier gibt. Da die Tiere sich nicht zum Zählen aufstellen, muss er seine Informationen anders sammeln. Anhand vieler kleiner Zeichen erkennt er, welche Tiere sich wo und wie bewegen und wie viele es sind. Wo sind die meisten Bäume angeknabbert? Wo ist Gras aufgewühlt?

Tierschutz hat Priorität

An Schlammpfützen und abgeschabten Bäumen erkennt er zum Beispiel, welche Wege die Wildschweine gehen: Sie suhlen sich im Schlamm und reiben sich anschließend an Mahlbäumen, deren Rinde davon abgewetzt wird. Sein Wissen über den Bestand gibt Nimsch auch an die Wildforschungsstelle in Bonn weiter. „Als die über die Blauzungenkrankheit forschte, nahmen wir Blutproben von Rehen und schickten sie ein. So ließ sich ermitteln, wie viel Wild betroffen ist“, erinnert sich Nimsch.

Tierschutz hat Priorität. Einige Tage, bevor die Bauern der Gegend ernten oder mähen, geben sie Bescheid. „Wir hängen dann Blinker auf, so dass die Rehe merken, dass etwas nicht stimmt und ihre Kitzen einen anderen Ort bringen. Manchmal tragen wir die Tierkinder auch selbst woanders hin. Die Mutter findet sie immer wieder“, erzählt Nimsch. Das Jägerleben ist so vielseitig wie die Natur. Das Draußensein und Beobachten mindestens so wichtig wie die Lust am Schießen. So viel habe ich an meinem Reviertag gelernt. Auch, dass man dafür viel Ruhe und Geduld braucht. Ich bin noch lange nicht so weit. Dass aber Sitzen und Schauen wie Meditation sein kann, habe ich gespürt. Ganz sicher die einzige Meditationsform, bei der auch geschossen werden darf.