Philosoph Liessmann im Interview über das Lügen„Wir brauchen Illusionen“

Das Symbol für die Lüge: Pinocchios lange Nase.
Copyright: dpa Lizenz
Köln – Professor Liessmann, wir reden gerade viel übers Lügen. VW hat bei Abgaswerten gelogen, dem Fifa-Chef wird Betrug vorgeworfen, einer deutschen Ministerin das Schummeln bei der Doktorarbeit. Es scheint, als faszinierte uns kaum etwas mehr, als jemanden der Lüge zu entlarven. Warum eigentlich?
Das hat damit zu tun, dass die Lüge einen höchst problematischen Tatbestand darstellt. Wir gehen in der Regel davon aus, dass Rechts- und Vertragssicherheit nur dann funktioniert, wenn nicht pausenlos gelogen und betrogen wird. Wenn jemand beurkundet, dass er eine Doktorarbeit eigenständig verfasst hat, dann müssen wir davon ausgehen können, dass das stimmt – sonst würden unsere Systeme zusammenbrechen.
Da sind Sie auf eine Linie mit Immanuel Kant: Lügen ist in seiner Ethik grundsätzlich unmoralisch.
Kant geht sogar noch weiter: Er sagt, die Idee der Menschheit selbst würde Schaden nehmen, weil vernünftige Kommunikation unmöglich werden würde. Als Antipode zu Kant könnte man Friedrich Nietzsche anführen, der versucht hat, das nüchterner zu sehen. Nietzsche zufolge ist der Wille zum Schein, zum Betrug, eine der ursprünglichsten Tätigkeiten des Menschen, die wir oft gar nicht bemerken. Für Nietzsche haben wir eine Lust am Täuschen.
Lüge ist nicht gleich Lüge
Das bestätigen auch psychologische Studien: Menschen lügen oft – und meist ohne dass es ihnen dabei bewusst wird. Zudem sind es die sozial Geschickten, die am meisten lügen – etwa um höflich zu sein. Aber kann die bloße Erkenntnis, dass Lügen alltäglich sind, Schummelei moralisch rechtfertigen?
Konrad Paul Liessmann ist Professor für Philosophie an der Uni Wien. 2006 war er Österreichs Wissenschaftler des Jahres.
Ihre Formulierung impliziert schon, dass Lüge nicht gleich Lüge ist. Die Frage ist, wo wir die Übergänge sehen. Apropos Höflichkeit: Es gibt konventionalisierte Formen, etwas vorzutäuschen – ist das schon Lügen? Wenn ich gegen meine Überzeugung sage: Sie sehen aber bezaubernd aus, ist das rein semantisch eine Lüge, aber keine, die jemanden schädigen soll oder die Kommunikation unterbricht. Man könnte argumentieren, dass eine Gesellschaft die Lüge in diesem Sinne sogar braucht. Die ganze Werbung würde nicht funktionieren, wenn Unternehmen immer alles über ihre Produkte sagen würden, was sie wissen. Manche Lügen scheinen moralisch gerechtfertigt – andere nicht.
Ähnlich hat schon Augustinus argumentiert, der zwischen schweren und weniger schweren Lügen unterschieden hat. Aber kann es überhaupt graduelle Unterschiede in dieser Frage geben?
Die berühmte Definition der Lüge bei Augustinus lautete: Lügen bedeutet, etwas zu behaupten, das ich selbst nicht für wahr halte. Das Kriterium ist die innere Überzeugung. Wenn also jemand etwas Unwahres behauptet, von dem er innerlich überzeugt ist, lügt er nicht, während ein anderer, der bewusst etwas Falsches sagt, ein Lügner ist. Insofern gibt es unterschiedliche Gewichtungen von Falschaussagen. Das zweite Kriterium für den Grad ist eine Frage, die auch schon bei Augustinus diskutiert wird: Welche Auswirkungen hat eine Lüge? Wir alle kennen die Notlüge, mit der man sich und andere schützen will.
Lesen Sie im nächsten Abschnitt, was es mit der Notlüge auf sich hat und, ob die Menschen belogen werden möchten
Wer definiert, wann eine Lüge eine Notlüge ist?
Beim VW-Betrug würde man nicht von einer Notlüge sprechen. Einen anderen Fall hat kürzlich der Schriftsteller Henning Mankell in einem Interview geschildert: Er hält es für natürlich, dass manche Flüchtlinge behaupten, sie seien Syrer, um die Chance auf Asyl für sich und ihre Familie zu erhöhen. Mankell sagt, er würde das auch tun. Das heißt: Menschen in Notsituationen gestatten wir manchmal Lügen zu. Die Frage ist, welche negativen Konsequenzen eine Lüge hat.
Kant würde sagen: Wenn das alle machten, gäbe es kein vernünftiges Asylrecht mehr. Eine Notlüge dagegen argumentiert immer mit dem Einzelfall. Wie lässt sich dieser Widerspruch auflösen?
Kant hätte im Gegensatz zu Mankell auch diese Notlügen nicht gestattet. Die Politik ist das beste Beispiel dafür, dass sich dieser Widerspruch oft nicht auflösen lässt. Zum einen kann man an Politikern kritisieren, dass sie oft nicht alles sagen, was sie wissen. Zum anderen wissen wir alle, dass das politische Geschäft ohne diese Zurückhaltungen und Beschönigungen – andere Worte für Notlügen – nicht funktionieren würde. Die Frage bleibt: Wo ist die Grenze?
Kaum eine Beziehung würde länger als drei Tage halten
Man könnte jetzt die Position des Utilitarismus vertreten: Moralisch gut ist, was der größten Zahl von Menschen nutzt und der geringsten Zahl schadet.
Dass ist schwer zu berechnen und missachtet die Minderheiten. Ich würde eher nietzscheanisch argumentieren: Es gibt keine Gemeinschaft, die ohne lebensnotwendige Illusionen auskommt. Zum Beispiel kann mir niemand erzählen, dass es eine völlig überraschende Erkenntnis war, dass manche Grenzwerte nur mit Hilfe von Manipulationen erreicht werden. Das war immer eine Illusion, die Teil der gesellschaftlichen Illusion ist, Gesundheit mit ungesunden Technologien herstellen zu können. Umso interessanter ist es zu sehen, mit welchen neuen Illusionen nun versucht wird, das Problem zu lösen. VW etwa macht aus dem Rückruf wegen Betrugs in den Schreiben an Kunden einen Aufruf, eine „Servicehandlung“ vornehmen zu lassen.
Was für eine düstere Sicht: Ohne Illusionen können wir nicht leben. Wollen wir belogen werden?
Nietzsche formuliert es so, dass wir die Wahrheiten unseres Lebens im privaten Bereich und in der Gesellschaft nicht aushalten könnten. Jeder weiß das. Würde man seinem Partner jederzeit die Wahrheit sagen, würde kaum eine Beziehung länger als drei Tage halten. Der Dramatiker Henrik Ibsen hat den Begriff der Lebenslüge eingeführt, die unsere Lebensläufe und unsere Gesellschaft durchziehen. Sein Stück „Die Wildente“ ist geradezu eine Verteidigung dieser Lebenslügen. Wir verwenden den Begriff heute eher negativ, aber man kann ihn auch positiv verstehen. Der Satz „Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar“, den Ingeborg Bachmann gesagt hat, stimmt eben nicht in allen Fällen.
Der eigentliche Gegenbegriff zur Lüge ist nicht die Wahrheit
Aber wir wollen doch die Wahrheit wissen. Und uns weder in der Liebe noch beim Essen noch bei Autos betrügen lassen.
Dass wir uns selbst mit Lügen umgeben, ändert nichts daran, dass man ein Recht auf Wahrheit einfordern kann. Aber ich bin mir gar nicht sicher, ob alle Menschen die Wahrheit im Fall VW wissen wollten. Es gibt sicher viele Millionen VW-Fahrer, die sich denken: Ich hätte problemlos mit dieser Software weiterfahren können.
Aber, noch mal: Würden wir die Lüge nicht verdammen, würde Kommunikation unmöglich. . .
Das stimmt: Wenn man nur nietzscheanisch und utilitaristisch argumentieren würde, würde unser System zusammenbrechen. Abzuwägen, wann eine Lüge moralisch toleriert werden kann, welche Formen von Übertreibungen und Halbwahrheiten man zulässt, ist eine tägliche Gratwanderung. Es ist Teil eines gesellschaftlichen Konsenses, der immer wieder neu ausgehandelt werden muss. Aber auch wenn man rigide als Kantianer argumentiert, dass Lügen grundsätzlich unmoralisch ist, würde die Kommunikation nur dann perfekt funktionieren, wenn sich alle daran hielten. Sonst ist der Lügner immer im Vorteil.
Also müssen wir uns damit arrangieren, dass die Lüge manchmal moralisch besser ist als die Wahrheit – in den Grenzen, die wir als Gesellschaft akzeptieren?
Der eigentliche Gegenbegriff zur Lüge ist nicht die Wahrheit – die kennt ohnehin niemand –, sondern die Wahrhaftigkeit: zu sagen, was man im Innersten seines Herzens für wahr hält. Die Pointe ist nur, dass wir oft genau das gar nicht so genau wissen wollen.
Das Gespräch führte Michael Aust