Revolution des SchulsportsSportlich trotz Spott

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Noch zwei Runden“, schallt die strenge Stimme des Sportlehrers über den Übungsplatz. Die Achtklässler hecheln weiter. Herr Sadowski steht mit seiner Stoppuhr am Rand der Laufbahn, den Blick starr auf die Läufergruppe gerichtet, die sich immer weiter auseinander zieht. Erik, der nach 1500 Metern wieder mal als Erster das Ziel erreicht, wird vor allen anderen Schülern wohlwollend gelobt. Thomas dagegen, der von Erik zwei Mal überrundet wurde, erntet nur einen dummen Spruch – und eine Fünf.
Thomas, Erik und Herr Sadowski sind frei erfunden, doch fast jeder kann sich im Sportunterricht an Szenen wie diese erinnern – ganz egal in welcher Sportart. Ob Bodenturnen oder Reck, Handball, Völkerball, Weitsprung oder Barren. Schulsport deckt ein weites Feld ab, in dem nicht wenige Schüler schmerzlich an ihre Leistungsgrenzen stoßen und sich ihr Leben lang traumatisch daran erinnern. Vor allem dann, wenn Lehrern wie Herrn Sadowski Empathie oder fachliche Ausbildung fehlt. „Die Folgen sind fatal“, warnt der Bewegungslehrer und Journalist Peter Kolakowski. „Wer als Kind negative Erlebnisse im Sportunterricht hatte, wird sich schwertun, als Erwachsener gern und regelmäßig Sport zu treiben“, sagt der Forscher, der sich in zahlreichen Veröffentlichungen mit einer falsch vermittelten Schulsportpädagogik beschäftigt.
Der Journalist und Bewegungslehrer Peter Kolakowski zeigt, wie jeder Spaß am Sport entwickeln kann – trotz frustrierender, negativer Erfahrungen in der Schule. Beim Anti-Diät-Club-Abend blättert er in der Geschichte des Sportunterrichts und zeigt, wie Unsportliche auch noch im Erwachsenenalter die Kurve kriegen können.Zeit: Dienstag, 4. November, 19 Uhr (Einlass 18.30 Uhr)Ort: studio dumont (im Dumont-Carré), Breite Straße 72, 50667 Köln Preis: 7,50 Euro, Anti-Diät-Club-Mitglieder zahlen 5 Euro, Karten gibt es nur an der Abendkasse
Zum selbem Ergebnis kommt auch eine gemeinsame Studie der Universitäten Leuven (Belgien), Paderborn und Augsburg, bei der 300 Jugendliche aus Belgien, Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Italien und Schweden zu ihrer negativen Einstellung zum Sport befragt wurden. „Als häufigste Gründe wurden zu wenig Mitbestimmung im Sportunterricht, Hänseleien und Sport als Strafe, im Sinne von zusätzlichen Laufrunden oder Extra-Liegestützen genannt“, sagt Professor Hans Peter Brandl-Bredenbeck von der Uni Augsburg und Leiter der Studie. „Man kann sagen, dass Sportunterricht vor allem die Kinder erreicht, die sowieso im Sportverein sind, alle anderen sind eher außen vor.“
Bei den Zehn- bis Elfjährigen seien etwa 60 bis 65 Prozent im Sportverein, bei den älteren Jugendlichen immerhin noch 40 bis 45 Prozent. Der Misserfolg der nicht im Verein organisierten Jugendlichen hänge wesentlich mit der einseitigen Orientierung des Sportunterrichts am klassischen Leistungs- und Wettkampfgedanken zusammen. Doch der sei schon seit mehr als zehn Jahren längst nicht mehr das einzige, was bei der Bewertung zählt. „In Nordrhein-Westfalen gilt der mehrperspektivische Ansatz. Neben der Leistung, der individuellen Könnenserfahrung, spielen auch soziale, gesundheitliche und ästhetische Aspekte des Sports bei der Bewertung der Schüler eine Rolle“, so Professor Günter Stibbe vom Institut für Schulsport und Schulentwicklung an der Deutschen Sporthochschule (DSHS). Auch die Wagnis-Perspektive sei im Sportunterricht angekommen. Dabei ginge es nicht um Adrenalin-Aktivitäten wie Bungee-Jumping, sondern um Koordinations- und Geschicklichkeitsübungen, wie Klettern oder Balancieren. „Es geht darum, dass junge Leute ihre individuellen Fähig- und Fertigkeiten erkennen und lernen, dass sie sich durch gezieltes Üben verbessern können“, so Stibbe. Brandl-Bredenbeck ergänzt: „Jugendlichen soll lebenslang ein sinnvoller Zugang zum Sport vermittelt werden.“
Damit das gelingt muss der Sportunterricht offener werden, auch für die Bedürfnisse der Schüler. Natürlich gibt es verbindliche Lehrpläne, doch diese lassen Lehrern und Schülern Freiräume. So kann das Bewegungsfeld Gleiten-Fahren-Rollen auch mit neueren Sportarten wie Inlineskaten ausgefüllt werden. Werfen-Springen-Laufen lässt Raum für Parkour, den Trendsport, bei dem es gilt, Treppen und Laternen als Turngeräte zu benutzen. „Auch Skateboarden ist vorstellbar, Grenzen sind den Schulen nur gesetzt, wenn es um die Ausstattung geht“, so Stibbe. An der DSHS gehören Kurse in den neuen Trendsportarten längst zum Standard-Angebot.
Wer die Revolution des Sportunterrichts als Jugendlicher verpasst hat, den holt das Thema Sport spätestens als Erwachsener wieder ein. Gesund leben zählt heute zum gesellschaftlichen Konsens. Überall verkünden Gesundheitsexperten und Sportgurus, was man zu essen und wann man zu trainieren hat. Wer sich nicht bewegt, ist ein sozialer Außenseiter.
Doch an der Umsetzung hapert es bei vielen, besonders bei Menschen, die mit ihrem Alltag ohnehin überfordert sind. Genau diejenigen hat sich die Lauftrainerin Susanne Deppe-Polzin ausgesucht. Vor zwei Jahren gründete sie den Grenzenlosen Sportverein. Gezielt warb sie in sozialen Brennpunkten, in Obdachlosen-, Jugend- und Asylbewerberheimen für ihre Idee, die aus einer Fortbildung zum Thema Integrative Lauftherapie entstanden war. „Es geht mir nicht um höher, schneller, weiter, sondern darum, Menschen durch Sport einen Halt im Leben zu geben“, sagt Deppe-Polzin. Einige von ihren Teilnehmern haben durch das regelmäßige Training auch in ihrem übrigen Leben Ordnung geschaffen und wieder einen Job gefunden.
„Bewegung und Sport in der Gemeinschaft ist das beste Mittel, um Selbstvertrauen aufzubauen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu entwickeln – das können wir bei unseren Teilnehmern stets aufs Neue erfahren“, sagt Peter Kolakowski, der ehrenamtlich mit einer „grenzenlosen Gruppe“ trainiert und Ende September mit ihr den Köln-Marathon als Staffel absolviert hat.
Mit einem Trainer-Modell à la Sadowski wäre dieser Erfolg kaum möglich gewesen.