50 Meter KölnZwischen Karten und Klicks in der Kölner Innenstadt

Reinhard Vedder in seinem Antiquitätengeschäft Sammelsurium an der Lütticher Straße in Köln steht.
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Köln – Es hat etwas ziemlich Lässiges, wie der Mann mit dem Drei-Tage-Bart rauchend in seinem Antiquitätengeschäft Sammelsurium an der Lütticher Straße steht. Der Qualm wabert durch dämmriges Licht, Reinhard Vedder (42), aufgeknöpftes Hemd, zerbeulte Jeans, Schal, Kaffee, Kippe, die Ruhe selbst, ist umgeben von Globen und alten Karten, Schallplatten und Schaukästen. Kein Kunde stört. „Seit es zu kalt ist, um die Tür offen zu lassen, kommen weniger Leute rein“, sagt er. „Das ist eigentlich ein bisschen schade.“
Viele kaufen jetzt, in der Vorweihnachtszeit, drüben, 50 Meter weiter. Das heißt, sie kaufen nicht drüben, sie kaufen am Computer oder am Smartphone. Wann sie wollen, wo sie wollen.
Drüben, das Haus auf dem Hohenzollernring 21-23 ist in Sichtweite, hat der Online-Marktplatz Hitmeister seine Büros. Ein winziges Klingelschild verweist auf die Firma. Im zweiten Stock sitzen 60 Menschen im Neonlicht an Computern, um Suchmaschinen und Internetsoftware zu optimieren, Produkte ins Netz zu stellen, Werbebanner zu schalten. Geschäftsführer Gerald Schönbucher begrüßt im Konferenzraum. Er trägt Jeans und gebügeltes Hemd. „Meine Klamotten kaufe ich im Geschäft, die will ich fühlen und anprobieren“, sagt er. „Die Weihnachtsgeschenke habe ich natürlich alle bei uns gekauft.“
Hitmeister versteht sich als Kölner Antwort auf Amazon. Ein Internetkaufhaus, das funktioniert wie der Branchenriese, „aber eine menschliche Beziehung zu den Kunden aufbauen will“, wie Schönbucher sagt. „Wir haben im Gegensatz zu Amazon einen eigenen Kundenservice. Wir sind für die Menschen greifbarer.“ Von den Produkten, die das Online-Kaufhaus vertreibt, steht kaum eins im Büro. Marketingmanagerin Dorthe Herberts referiert über „organische Results von Google“ und „Category Management“, ihre Sprache ist gespickt mit englischen Fachbegriffen. Es geht wie bei Vedder ziemlich lässig zu.
Die Angestellten sind im Schnitt 27, alle per Du. Auf den Schreibtischen lagern Club-Mate-Flaschen, Schokoladennikoläuse, neben einem Laptop steht ein Kölsch. „Freitags eigentlich Bier erst ab vier“, sagt Schönbucher, „musste bei mir heute früher sein“, sagt der Systemtechniker. Schönbucher lacht. „Unser Marketingleiter ist übrigens schon Ende 30!“, sagt der Unternehmensgründer, der mit 36 bei Hitmeister fast ein Greis ist.
Schönbucher ist – im Gegensatz zu Vedder – sehr geradlinig durchs Leben gelaufen. Derweil Vedder Schlosser und Kälteanlagenbauer lernte, eher zufällig auf Beleuchter umsattelte und sich jetzt im Antiquitätenladen wiederfindet, hat Schönbucher an der privaten Elite-Wirtschaftshochschule WHU studiert und promoviert. Er war 28, als er mit Studienkumpels den Hitmeister-Vorgänger Hitflip gründete – eine Online-Tauschbörse für Medienprodukte. „Ich mag es, Dinge selbst zu entwickeln und zu entscheiden“, sagt er. „Wenn ich eine neue Farbe für einen Bestellbutton ausprobiere und in kurzer Zeit sehe, ob die Farbe zu mehr oder weniger Verkäufen führt, finde ich das spannend.“
Vedder sagt, er wolle in seinem Laden „Reize setzen und die Leute zum Staunen bringen. Mit alten Computern, Karten oder Telefonen verbinden die Menschen Geschichten. Da soll es Klick machen“. Auch Schönbucher will die Leute zum Klicken bringen. „Ich bin aber nicht Unternehmer geworden, um reich zu werden“, versichert der Mann, der hörbar im Schwabenland aufgewachsen ist. „Dann wäre ich zu einer Investmentbank gegangen.“
Der Laden müsse „irgendwie laufen. Ich muss auch eine Familie ernähren“, sagt Vedder, der nie im Internet einkauft, seine Raritäten aber auch über Ebay anbietet. „Wenn ich sehe, dass es in einem Jahr nicht läuft, höre ich wieder auf.“ Schönbucher plant langfristiger. Über zwei Millionen Besucher verzeichnet die Hitmeister-Seite nach eigenen Angaben monatlich, der Umsatz ist dieses Jahr um 50 Prozent gestiegen. „Ich sehe sehr gute Chancen, dass wir in zehn Jahren noch auf dem Markt sind.“ Ob das Unternehmen, dessen Hauptgesellschafter ein Immobilienfonds aus New York ist, dann schon verkauft ist? „Möglich. Es gibt immer wieder Anfragen. Aber wir sind nicht darauf aus, verkauft zu werden.“
Vedder führt das Sammelsurium seit vier Monaten. Feste Öffnungszeiten hat er nicht, seine Handynummer ist draußen angeschlagen. „Ich versuche, jeden Tag zwischen 12 und 18 Uhr da zu sein“, sagt er, „ich arbeite ja auch noch als Lichtmeister für Fernsehsendungen.“ 1972 hat der Antiquitätenladen eröffnet, es ist eines der ältesten An- und Verkaufsgeschäfte seiner Art in Köln; und eines der wenigen, das vom Internethandel noch nicht verdrängt worden ist.
Wie der Einzelhandel der Zukunft aussieht? „Es wird weniger kleine Geschäfte geben, man sieht ja, wie sich die Ketten und das Internet durchsetzen“, sagt Vedder. „E-Commerce macht im Moment neun Prozent des Einzelhandels aus, es wird auf 30 bis 40 Prozent steigen“, sagt Schönbucher. Er gehe nicht davon aus, dass in der City irgendwann nur noch Werbeläden stehen, in denen die Konzerne ein paar Smartphones oder eine Socke ausstellen. „Die Läden und Kaufhäuser werden sich aber was einfallen lassen müssen, um sich gegen die bösen Online-Händler zu wehren.“
50 Meter Köln heißt eine Serie, in der die Redaktion die Vielfalt der Stadt ergründet. Nachbarn, die dem ersten Anschein nach Welten trennt, sprechen über ihren Alltag. Regelmäßig samstags im Lokalteil. (uk)
Wie der Kunstbuchhändler Benedikt Taschen auf dem Hohenzollernring, Ecke Ehrenstraße, der mit seinen Ideen so erfolgreich ist, dass er jüngst in L.A. eine Galerie eröffnete. Oder die Elektronikkette Atelco, Nachbar von Hitmeister, die sich auf Beratung konzentriert und so den Marktführern die Stirn bieten will. „Man kann als Ladengeschäft überleben“, sagt Schönbucher. „Man braucht nur Ideen, mit denen man heraussticht.“
Im Umkehrschluss heißt das: Viele Kaufhäuser und kleine Läden haben zu lange geschlafen. Die Zeit der dynastisch geprägten Einzelhändler ist vorbei. Hitmeister versteht sich als Unternehmen mit flacher Hierarchie, der Chef sitzt im Großraumbüro. Es geht nicht länger um Herrschaftswissen: jeder Mitarbeiter kann die entscheidende Idee haben.
13,4 Millionen Produkte bietet Hitmeister an; von Filmen, Musik und Büchern bis zu Babyausstattung, Kfz-Zubehör und Lebensmitteln. Im Sammelsurium befinden sich „4500 bis 5000 Sachen“, schätzt Vedder, davon 2000 Schallplatten, dazu Gitarren, Bilder, Lampen, Sekretäre, Comics, Bücher, Telefone, Rechenmaschinen aus dem Bergbau, ein C-64-Computer samt Joysticks und Spielen, auch ein Busen-Kunstbuch vom Taschen-Verlag; spezialisiert hat der gebürtige Kölner Vedder sich auf Globen und Karten, Lern- und Orientierungshilfen aus einer Zeit ohne Navis und Internet. „Ich bin vom Sammler zum Händler geworden“, sagt er. „Eine unternehmerische Idee stecke nicht dahinter. Ich gucke eher, was wird. Der Laden ist ein Jugendtraum von mir.“ Im Sammelsurium ist es kurz vor Weihnachten nicht voller als sonst. Bei Hitmeister werden die Produkte dieser Tage im Sekundentakt verkauft. Das Antiquitätengeschäft und das Internetkaufhaus sind keine Konkurrenten: es sind zwei Welten.
Zu Vedder kommt der Kunstprofessor, der eine gezeichnete Karte mit Gorillas sieht und daraufhin erzählt, wie er wochenlang mit Gorillas im afrikanischen Dschungel gelebt hat. Es kommt der Junkie auf Turkey, der zitternd Comics verkaufen will und die 20 Euro mit Kaltschweiß und nervösem Lächeln entgegennimmt. „Ich mache das hier natürlich auch wegen der Menschen“, sagt Reinhard Vedder. „Es ist unglaublich, was für Geschichten ich hier höre. Auch hinter den Dingen, die hier stehen, stecken fantastische Geschichten.“ Geschichten aus der Zeit der Karten und C-64-Computer.