Alexander Gerst im Podcast„Ein Außerirdischer würde sich in Köln sehr wohlfühlen“

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Alexander Gerst

Köln – Herr Gerst, wir treffen Sie im ESA- Astronautenzentrum in Köln-Porz. Ist das mittlerweile Ihre zweite Heimat geworden?

Ja, Köln ist meine zweite Heimat geworden. Das hier gelegene Europäische Astronautenzentrum ist seit 2009 mein Arbeitsplatz. Und übrigens nicht nur meiner, sondern der des gesamten europäischen Astronautencorps.

Und Ihre erste Heimat? Künzelsau oder der Orbit?

Ich habe aufgehört zu zählen. Als ich aufgewachsen bin, waren natürlich Künzelsau und der wunderschöne Hohenlohe-Kreis meine erste Heimat. Dann begann ich zu reisen, habe als Wissenschaftler viele neue Orte auf diesem Planeten kennengelernt und ein Jahr auf der Internationalen Raumstation verbracht. Die ist mir tatsächlich auch als Heimat ans Herz gewachsen. Obwohl es ein Ort ist, den man auf keiner Karte findet. Aber Herman Melville hat einmal gesagt, die wirklich bedeutungsvollen Orte, das sind diejenigen, die auf keiner Karte verzeichnet sind.

Wenn Sie einem Außerirdischen Köln erklären müssten, wie würden Sie damit anfangen?

Ich glaube, als Außerirdischer würde man sich in Köln sehr wohlfühlen, weil man ohne Probleme einfach so durch die Straßen spazieren könnte – es würde noch nicht einmal auffallen. Das ist tatsächlich das, was mir als allererstes an Köln aufgefallen ist: Die Leute sind gut drauf und es kann zu jeder beliebigen Jahres- und Tageszeit vorkommen, dass Leute in voller Verkleidung durch die Stadt laufen. Das finde ich toll.

Wenn man so will, sind Sie ja selbst ein bisschen Außerirdischer, wo Sie doch schon ein Jahr außerhalb der Erde gelebt haben. Was ist Ihnen von diesem Perspektivenwechsel geblieben?

Da ging es mir wie jedem von uns, der schon mal einen vertrauten Ort verlassen und dann von außen darauf geschaut hat. Ähnliche war es, als ich das erste Mal meine Heimatstadt für eine Weltreise verlassen habe. Als ich 20 war, bin ich mit dem Rucksack für neun Monate nach Mittelamerika, Australien und Neuseeland gereist und habe plötzlich eine ganz andere Sicht auf mein Heimatland bekommen. Ich habe Seiten daran entdeckt, die mir vorher nicht aufgefallen waren. Zum Beispiel, wie schön es hierzulande sein kann. Dafür musste ich erstmal auf die andere Seite der Erdkugel reisen. Und so erging es mir auch bei meinen Weltraumflügen. Vieles wusste ich zwar vorher, aber es war mir nicht bewusst. Zum Beispiel wie klein unser Planet eigentlich ist, wie empfindlich seine Biosphäre ist und wie begrenzt alle Ressourcen sind. Wie unsinnig es ist, sich auf diesem Planeten zu bekriegen. Viele Dinge hatte ich vorher einfach als unabänderliche Fakten hingenommen. Wenn man aufwächst, stellt man viele Dinge nicht in Frage, denn sie waren ja schon immer so. Und plötzlich, wenn man sie von außen sieht, erscheinen sie grotesk. Etwa die Idee, dass es Grenzen gibt, innerhalb derer manche Völker eingesperrt sind. Vom Weltall aus sieht man bis auf wenige Ausnahmen keine Ländergrenzen.

Würden Sie diesen Blick von außen jedem empfehlen?

Ja, ich denke, es würde jedem Menschen gut tun, die Erde einmal von außen zu sehen. So, wie es jedem gut tut, ein Problem von außen zu betrachten. Wir würden so manche Entscheidung anders treffen.

Nun ist der Blick aus dem All auf die Erde aber noch ein sehr exklusiver, den sich erstmal nur wenige Milliardäre leisten können. Was machen die anderen 99 Prozent?

Sie sollten hoffen, dass es schnell vorangeht mit der Kommerzialisierung des Weltraums. Der Begriff der Kommerzialisierung ist ja oft negativ belegt, aber hier ist das durchaus etwas Positives. Wir bei der ESA möchten als Weltraumagentur an der vordersten Front der Technologie arbeiten und das Feld frei machen für alle, die danach kommen. Natürlich wie bisher für Forschung zum Wohle der Menschheit, aber auch für touristische Ziele. Wenn das nachhaltig geschieht, zum Beispiel durch die verwendeten Materialen und Antriebe, dann ist das aus meiner Sicht durchaus legitim. Die Raumfahrt ist nun an einer Stelle, an der die Luftfahrt vor 100 Jahren war. Damals war sie noch riskant und teuer, und über den Atlantik zu fliegen war wirklich noch ein großes Abenteuer. Heutzutage haben viele von uns das schon gemacht, während wir nebenbei ein Buch lesen oder aus dem Fenster schauen. Die Weltraumagenturen arbeiten heute unter anderem aus diesem Grund daran, nachhaltige Antriebe zu entwickeln. Wenn das gelingt, dann wird sich das Feld schnell so entwickeln, dass nicht nur Milliardäre ins All hinausfliegen können, sondern viele weitere Menschen.

Jetzt fliegt mit Matthias Maurer bald der nächste deutsche Astronaut ins All. Welchen Tipp würden sie Herrn Maurer geben, den Sie selbst gerne vor ihrer ersten Mission bekommen hätten?

Ich kenne Matthias schon sehr lange, das ist ein Pfundskerl. Wir haben hier im ESA-Astronautenzentrum viel Zeit miteinander verbracht, und er hat eine großartige Crew. Ich bin mir sicher: Matthias braucht keine Tipps, er ist wirklich gut vorbereitet. Natürlich unterhalten wir uns oft darüber, wie es denn so ist im Training. Wir helfen uns gegenseitig, unsere Familien kennen sich. Er hat einen tollen Flug vor sich und auch ein vielfältiges Experiment-Programm. Matthias Maurer führt viele der langjährigen Experimente fort, mit denen ich auch schon gearbeitet habe. Diese Kontinuität ist den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sehr wichtig, unter anderem auch bei jenen Experimenten, die das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt vorbereitet hat. Die Ergebnisse sind relevant für alle von uns hier unten, zum Beispiel dadurch, dass sie ermöglichen neue Materialien zu entwickeln, oder an wichtigen Gesundheitsthemen zu forschen.

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Matthias Maurer bricht an Bord einer Crew-Dragon-Raumkapsel zur ISS auf. Die hat bekanntlich Elon Musks Weltraum-Unternehmen SpaceX gebaut. Sie konnten sich auf die jahrzehntelang erprobte Technik der Russen verlassen. Wie sicher kann sich Maurer fühlen?

Es ist generell so, dass wir in der Raumfahrt an vorderster Front der Technologien arbeiten. Da kann man ein gewisses Risiko nie ausschließen. Das war auch beim Sojus Raumschiff so, mit dem ich geflogen bin. Wenn so ein Vehikel ein paar hundert Mal geflogen ist, kennt man natürlich die Technik und deren Risiko genauer, was dann auch zu einer höheren Sicherheit führt. Aber auch der Crew Dragon ist jetzt bereits mehrmals erfolgreich geflogen. Die Trägerrakete ist zuverlässig, der Dragon selbst ist als Frachtraumschiff schon oft zur ISS gestartet. Ich habe ihn selbst schon zweimal mit dem Roboterarm einfangen und an die ISS andocken dürfen. Ich hätte keine Bedenken, mitzufliegen, es ist ein interessantes Gefährt. Es ist ganz anders gebaut, als die Sojus, auch die Philosophie der Bedienung ist anders. Bei der Sojus waren wir als trainierte Pilotinnen und Piloten an Bord. Und die europäischen Astronautinnen und Astronauten mussten es genauso wie der russische Commander mit dem Joystick von Hand fliegen können. Das erfordert sehr viel Training im Sternenstädtchen, ist aber eine wichtige Fähigkeit. Beim Crew Dragon läuft das sehr viel automatischer, und nur die amerikanischen Kolleginnen und Kollegen bekommen das volle Trainingsprogramm. Leider fliegen wir als Europäer auf den US-Raumschiffen nur als so genannte Payload-Spezialisten, also als Gäste, ohne wichtige Aufgaben an Bord, bis wir die ISS erreichen. Das macht das Training leichter, aber als Astronaut verliert man dabei einiges an Kontrolle und Fähigkeiten, was sich natürlich auf die technischen Fähigkeiten der Europäer in der astronautischen Raumfahrt auswirkt. Um in der internationalen Gemeinschaft der Weltraumakteure nicht abgehängt zu werden, müssen wir Europäer deshalb unsere eigenen Raumschiffe weiterentwickeln. Das Zeitfenster, um nicht den Anschluss zu verlieren, ist nicht mehr lange offen.

Aber ist es den gut, dass jetzt immer mehr automatisiert wird?

Ja, das ist die richtige Richtung. Die Kontrollalgorithmen und Messsysteme, die das möglich machen, gab es früher noch nicht. Prinzipiell kann das Vehikel die Feinsteuerung heute besser durchführen als ein Mensch. Der Trend geht jetzt dahin, dass man die wichtigen Entscheidungen den Menschen überlässt — soll ich den Andockvorgang starten, soll ich ihn abbrechen? —, aber die feinen Kontrollsteuerungen, das zentimetergenaue Annähern an die Raumstation, dem Computer überlässt. So ist die Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine im Laufe der Jahre immer besser geworden. Den Astronautinnen und Astronauten en werden so Freiräume geschaffen, um die wichtigen Entscheidungen im Blick zu behalten. Bei Flugzeugen ist das heute ganz ähnlich. Wenn man bei der Sojus-Kapsel mitten im manuellen Andocken war und sich ganz genau auf seine zwei Joysticks konzentriert hat, mit denen man sechs Freiheitsgrade gleichzeitig steuern musste, hatte man nicht mehr viel Kapazitäten, um noch andere Dinge zu entscheiden.

Und in 20 Jahren fliegen dann alle paar Tage Menschen mit solchen kommerziellen Anbietern in den Weltraum?

Ein Beispiel dafür hat man kürzlich bei der Inspiration4-Crew von SpaceX gesehen. Da sind vier Menschen für mehrere Tage ins All geflogen, die nur ein paar Wochen oder Monate lang ein Training bekommen haben, der Rest wurde von der Kapsel selbst durchgeführt. Das funktioniert, solange technisch alles gut geht. Man ist in dem Fall natürlich kein professionell trainierter Astronaut mehr, sondern eher ein Passagier. Mir persönlich wäre das zu wenig Kontrolle, ich finde es immer gut, auch einen Plan B und C zu haben. Aber offenbar gibt es viele Menschen, die bereit sind, dieses anfänglich noch höhere Risiko auf sich zu nehmen. SpaceX hat angekündigt, dass sie in Zukunft auf diese Weise mehrere Missionen pro Jahr fliegen wollen.

Das neue Space Race der Milliardäre – Elon Musk, Jeff Bezos und Richard Branson – betrachten viele mit Amüsement, manche auch mit harscher Kritik. Wie sehen Sie das?

Ich sehe es auch so, dass es nicht unbedingt ein positives Bild abgibt, wenn Raumfahrt als teures Amüsement für gelangweilte Milliardäre angesehen wird. Der UNO-Generalsekretär hat vor kurzem entsprechend darauf hingewiesen, dass es Unzufriedenheit in großen Teilen der Bevölkerung erwecken kann, wenn Menschen auf der Erde hungern und gleichzeitig Milliardäre scheinbar aus Spaß in den Weltraum fliegen. Da hat er recht. Ich denke jedoch, dass man über diese eher kurze Phase hinwegschauen muss, um das Positive zu erkennen, dass dadurch langfristig ermöglicht wird. Denn Amüsement ist ja nicht das Ziel, um das es der Gemeinschaft geht. Letzten Endes wird das derzeitige Engagement der Milliardäre mit dazu beitragen, dass der Weltraum sehr viel zugänglicher wird für uns Menschen - für die Wissenschaft, für die Technologie-Entwicklung und als Inspiration für alle von uns. Und auch dafür, dass letztendlich weniger Menschen auf der Erde hungern, ermöglicht zum Beispiel durch Weltraumgestützte Technologien wie das Europäische Copernicus Satellitensystem der ESA.

Die ISS ist in die Jahre gekommen. Wie lange wird sie noch die Erde umkreisen? Und was kommt danach?

Die gegenwärtigen Schätzungen deuten darauf hin, dass es um 2030 soweit ist, dass wir die ISS außer Betrieb setzen müssen. Einfach weil manche Teile dann zu alt geworden sind, bisher hauptsächlich im russischen Segment. Die ersten ISS Module kamen schon 1998 in den Weltraum. Ein neueres Modul wie das Columbus-Labor - das europäische Raumlabor, in dem ich auch viele Experimente durchgeführt habe - steht dagegen da wie eine Eins. Im Moment ist sogar eine Erneuerung des Labors im Gange. Außerdem erneuern wir die Solarpaneele der ISS für die generelle Stromerzeugung, und haben Batterien ausgetauscht. Wenn sie und ich jetzt in der ISS schweben würden, würden sie denken, das ist ja nagelneu hier. Aber man muss sich dennoch jetzt Gedanken machen, was danach kommt, um keine Lücke in den Forschungsmöglichkeiten zu riskieren. Noch dazu muss uns klar sein, dass eine Raumstation immer eine empfindliche Maschine sein wird. Egal wie neu sie ist, es besteht jederzeit die Gefahr eines technischen Defekts oder des Einschlags eines Stückes Weltraumschrott, der zu einem vorzeitigen Ende des Projektes führen kann. Wir müssen also vorbereitet sein. Und das ist tatsächlich auch ein Teil meiner Arbeit hier: Ich bin zwar nach wie vor im Astronautencorps und trainiere, aber einer meiner Zusatzaufgaben bei der ESA ist, dass ich ein Team leite, das sich Gedanken darüber macht, wie sich Europa im Erdorbit für die astronautische Raumfahrt in den nächsten Jahrzehnten aufstellen kann. Dabei entwickeln wir verschiedene Konzepte, um sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten der ESA auch weiterhin Zugang zu einem orbitalen Labor haben. Damit die Wissenschaft im All stattfinden kann, damit die internationale Kooperation weitergeht. Damit wir auch weiterhin unsere junge Generation inspirieren können. Alles deutet derzeit darauf hin, dass wir hierbei auch mit kommerziellen Weltraumfirmen zusammenarbeiten werden. Das Wichtige ist, dass wir als Europa uns jetzt entscheiden, in der Exploration des Weltraumes weiterhin eine Rolle zu spielen. Um uns herum gibt es einige Nationen, die bereits einen Zugang für Menschen zum Weltraum haben oder bald haben werden: USA, Russland, China, Indien. Wir Europäer haben aber bislang keinen. Die Ariane ist eine großartige Rakete, aber sie kann bisher keine Menschen transportieren. Wir müssen uns also jetzt überlegen, wie wir uns für die Zukunft aufstellen, sonst werden wir in wenigen Jahren unaufholbar abgehängt.

Man hatte ja immer den Eindruck, dass die ISS ein richtiges Konsens-Produkt ist. Jetzt droht da alles auseinander zu fliegen, jeder verfolgt seine eigene Agenda. Stecken jetzt die großen Player ihre Claims im Weltraum ab?

Die Zusammenarbeit auf der ISS funktioniert nach wie vor sehr gut, trotz gelegentlicher politischer Stolpersteine auf der Ebene darüber. Auch Russland hat jetzt noch einmal betont, dass sie weiterhin die ISS unterstützen. Es deutet alles auf eine Zusammenarbeit bis mindestens 2030 hin. Man ist zusammen im Orbit, als Gemeinschaft. Das Schöne an dem Projekt der ISS ist, dass sie für alle nützlich ist, aber nur dann, wenn alle zusammenarbeiten. Und gleichzeitig ist es natürlich so, dass sich alle darüber Gedanken machen müssen, was danach kommt. Dass man an einem Nachfolgeplan arbeitet, gehört also dazu. Es geht darum, dass man sich wichtige Fähigkeiten bewahrt – in der Wissenschaft, im Ingenieurswesen, in der Industrie. Gerade jetzt, wo es so viele private Pläne im Weltraum gibt, hat sich etwas grundlegend geändert: Vorher waren wir voneinander sehr viel abhängiger, als wir es in Zukunft sein werden. Wenn einer etwas gut konnte, dann war das eine Eintrittskarte zu einer Kooperation. Wir Europäer haben zum Beispiel sehr gefragte Transportraumschiffe gebaut, aus denen sich dann weitere Kooperationen entwickelt haben. Das Europäische Service-Modul für die Orion-Kapsel wird ja zum Großteil in Deutschland gebaut. Wir tauschen es mit den internationalen Partnern gegen den Transport von Astronautinnen und Astronauten aus. Das hat in der Vergangenheit gut funktioniert. Das Problem ist nur, dass die Möglichkeit dieses Tauschens jetzt dadurch begrenzt wird, dass viele Partner nicht mehr abhängig sind von unseren Produkten. Die Gefahr ist, dass wir als Europäer irgendwann den Zugang zum Weltraum verlieren, weil uns niemand mehr im Tausch für andere Fähigkeiten mitnimmt. Wir könnten solche Dienste natürlich einfach bezahlen. Dann zahlen wir mehrere 100 Millionen Euro pro Jahr an SpaceX oder Boeing, aber das wäre Geld, das wir nicht in Europa ausgeben, sondern einfach über den Atlantik überweisen. Und das wollen wir natürlich vermeiden.

Europa müsste also sehr viel aktiver werden, mehr Geld investieren?

Wenn Europa das nicht tut, werden wir in wenigen Jahren in einem riesigen neuen Technologiefeld komplett abgehängt. Jetzt sind wir zum Teil noch vorne dran. Wir sind zum Beispiel bei der Erdbeobachtung mit dem Copernicus-System weltweit führend. Wir sind auf der ISS bei der Forschung erstklassig, gerade Deutschland hat traditionell viele Experimente auf der ISS. Die Analogie ist, dass wir vor Jahrzehnten als Teenager in die ISS Kooperation eingestiegen sind, und mit viel gutem Willen behandelt wurden, dafür müssen wir unseren Partnern dankbar sein. Wir sind zwischen Russland und den USA zu Partnern auf Augenhöhe gewachsen. Das sieht man daran, dass die Amerikaner uns Europäern jetzt zutrauen, das Service- und Antriebsmodul für ihre nächste Mondkapsel zu bauen. Nun sind wir immer noch in der Familie, aber erwachsen, was mit neuer Verantwortung einhergeht. Wir müssen, um bei der Analogie zu bleiben, nun unser Essen selbst kochen und unsere Wäsche selbst waschen. Also Programme auf den Weg bringen, um Kontinuität im Erdorbit bereitzustellen.

Hypothetisch gesprochen: Ihnen wird ein Flug zum Mond oder zum Mars angeboten. Für welchen entscheiden Sie sich und warum?

Es wäre eine Luxussituation als Astronaut, dass man gleich zwei interessante Flüge angeboten bekommt. Das ist beides faszinierend, aber ich glaube, da ich immer schon eine Entdeckernatur in mir hatte, würde ich mich für den Mars entscheiden. Einfach, weil dort noch kein Mensch stand, nach oben geschaut hat und die Erde als kleinen blauen Punkt am Firmament gesehen hat. Das war auch einer der Gründe, warum ich meine erste Mission BlueDot genannt habe. Weil mich genau diese Perspektive so fasziniert: Wie wird es sein, wenn man die Erde immer kleiner werden sieht, bis sie keine blaue Murmel mehr ist, sondern nur noch ein fahler Punkt am Himmel. Auf dem Weg zum Mars wird es auch Momente geben, in denen man die Erde gar nicht mehr sieht, sozusagen eine No-Dot-Experience. Einige von uns so weit hinauszuschicken, dass sie ihren Heimatplaneten nicht mal mehr sehen können, wird uns als Menschheit verändern. Das finde ich, neben all der Wissenschaft, die der Mars uns zu bieten hat, eine faszinierende Perspektive. Auf dem Mars kann man vielleicht die größten philosophischen Fragen der Menschheit beantworten: Sind wir allein da draußen im Universum? Wenn wir dort Mikroben finden, ausgestorbene oder noch lebendige, dann bedeutet das wahrscheinlich, dass das Universum vor Leben nur so blüht. Oder die Frage, warum der Mars jetzt wüst und leer ist, wo er doch früher ein erdähnlicher Planet war, mit Wasser auf der Oberfläche und einer Atmosphäre? Und wie vermeiden wir, dass mit der Erde dasselbe passiert? Das sind Fragen, die finde ich so faszinierend, da könnte ich auf keinen Fall Nein sagen zu einer Reise. Aber auch der Mond ist spannend. Mich faszinierte schon als Kind diese Idee, einmal in diesem grauen Staub, in dieser „magnificent desolation“, wie Buzz Aldrin es genannt hat, zu stehen und das einzige Bunte, das man sieht, ist dieser daumennagelgroße blaue Planet über einem. Das ist in meiner aktiven Zeit als Astronaut auch das realistischere Ziel.

Weniger hypothetisch: Noch in diesem Jahrzehnt soll es Flüge zum Lunar Gateway geben, der geplanten Raumstation im Mondorbit. Europäer sind auch mit im Rennen. Wären Sie gerne mit dabei?

Zum Glück bin ich, zusammen mit meinen Kollegen vom Europäischen Astronautenkorps schon jetzt bei diesem tollen Projekt mit dabei, im Prinzip bauen wir mit unseren Partnern eine kleine Raumstation in der Mondumlaufbahn. Eine meiner Aufgaben ist es, das Korps in dem Projekt zu vertreten, und die Expertise der Astronautinnen und Astronauten mit einfließen zu lassen. Die Europäer bauen dafür das ESPRIT- und das IHAB-Modul, letzteres ist das Wohnmodul des Gateways. Und da braucht man natürlich die Erfahrung von Menschen, die schon sehr viel Zeit auf einer Raumstation verbracht haben. Da geht es zum Beispiel darum, wie das Lebenserhaltungssystem eingebettet wird, aber auch wo der Tisch hinkommt und wie groß die Schlafkabinen sind. Wo kommt die Toilette hin, wo werden die Experimente durchgeführt und so weiter. Es ist toll zu spüren, wie dieses Projekt vorankommt. Man spürt, dass jetzt eine Zeit des Aufbruchs ist, um einen Schritt weiter hinaus ins Unbekannte zu machen. In den Jahren zuvor konnte man zum Beispiel bei der NASA ein wenig Frustration spüren, da gab es Programme, die gestartet und wieder gecancelt wurden. Aber jetzt spürt man einen neuen Wind.

Was hat sich geändert?

Die vorherigen Projekte waren hauptsächlich nationale Projekte der USA. Solch nationale Projekte lassen sich leicht wieder einstellen wenn es Gegenwind gibt. Das ist mit einem internationalen Projekt wie dem Gateway nicht so einfach, weil man natürlich Verpflichtungen seinen Partnern gegenüber hat. Es war auch eines der Erfolgsgeheimnisse der ISS, dass man sich vor einem internationalen Partner natürlich nicht die Blöße geben wollte, bei einem Projekt zu enttäuschen, in das alle jahrelange Arbeit hineingesteckt haben.

Glauben Sie, dass sie in diese Raumstation mal einen Fuß hineinsetzen werden?

Ich habe keine Kristallkugel, von daher kann ich die Frage nicht beantworten. Ich würde auf jeden Fall nicht Nein sagen. Es ist relativ sicher, dass europäische Astronautinnen und Astronauten im nächsten Jahrzehnt dorthin fliegen werden, die entsprechenden Vereinbarungen mit der NASA bestehen bereits. Und auch wenn es für mich das Größte Abenteuer wäre - es geht hierbei nicht darum, wer von uns fliegt, sondern dass wir als Europäer mit dabei sind.

Wird es denn in absehbarer Zeit eine echte Mondstation geben?

Ja, die kommt. Die ersten Missionen zur Mondoberfläche werden wieder relativ kurze Trips sein, vermutlich vom Gateway aus. Man muss erst einmal die Technologie aufbauen. Das wird jetzt ganz anders gemacht als damals in den sechziger Jahren. Man wird mehr Forschung machen, versuchen, das nachhaltiger zu gestalten — und man wird letztendlich auch länger auf der Mondoberfläche bleiben. Es wird nicht mehr nur darum gehen, eine Flagge in den Boden zu rammen. Das macht die Mission sehr viel komplexer. Man will auch zum Südpol des Mondes fliegen, weil dort Wasser vermutet wird. Die Apollo-Missionen waren damals aufgrund technischer Limitationen von der günstigsten Umlaufbahn abhängig, deswegen fanden diese Missionen um den Mondäquator herum statt. Jetzt wird man mehr und mehr Infrastruktur auf dem Mond aufbauen und langfristig, da bin ich mir sicher, wird das auch permanenter Natur sein. In diesem Jahrzehnt wird es keine Mondstation geben, die dauerhaft besetzt sein wird. Aber zehn Jahre später vielleicht schon.

Stimmt das eigentlich, dass der deutsche Astronaut Alex Vogel im Matt-Damon-Film „Der Marsianer“ auf Ihrem Vorbild beruht?

Das habe ich erst im Nachhinein gesehen, als mir jemand einen Screenshot geschickt hat. Beim Geburtsort von Alex Vogel steht dort „Künzelsau“, da musste ich schmunzeln. Und die Frisur passt auch.

Haben Sie den Eindruck, dass das Interesse an der Weltraumfahrt gestiegen ist, nicht zuletzt dank Ihres Kommunikationstalents?

Für mich ist das schwierig zu beurteilen. Ich habe mich schon immer für den Weltraum interessiert und dadurch ein verzerrtes Bild. Ich würde auch nicht sagen, dass ein nun gesteigertes Interesse nur an meinen Missionen lag oder daran, wie wir kommuniziert haben. Mit den neuen Medien haben die Menschen einfach mehr Möglichkeiten, bei diesen Missionen hautnah dabei zu sein, sich dafür zu begeistern. Inzwischen kann man virtuell an Bord der Raumstation gehen, sie können zu fast jeder Zeit auf der NASA- oder der ESA-Webseite den Astronauten bei der Arbeit zuschauen, und den Funkverkehr mitanhören. Sie können auf Twitter die neuesten Bilder sehen, die die Astronautinnen und Astronauten da oben schießen, und lesen, was sie denken und fühlen. Wir Menschen sind doch, tief in uns drin, alle Entdecker. Ich kenne niemanden, den der Gedanke in den Weltraum zu fliegen und die Erde zu umrunden, nicht in irgendeiner Weise fasziniert.

Sie mussten sich bei Ihren Auswahlverfahren gegen rund 8500 Mitbewerber durchsetzen. Zuletzt haben sich rund 22.000 Menschen für das europäische Astronautenprogramm beworben. Leider waren nur ein Viertel davon Frauen. Brauchen wir eine Quote im Weltraum?

Wir haben uns viele Gedanken darüber gemacht, wie wir die Anzahl der Frauen bei den Bewerbungen erhöhen können. Das ist aus vielerlei Gründen wichtig. Wir haben gemerkt, dass ein diverses Team im Weltraum wichtig ist. Dabei geht es auch um verschiedene Erfahrungs- und Altershintergründe. Gerade in der Raumfahrt kommt man schnell in Situationen, für die man noch keine Lösung hat. Ich war selbst in einigen dieser Situationen. Da ist es gut, wenn man einen vielfältigen Hintergrund im Team hat. In meinem Auswahlverfahren 2008 hatten sich rund ein Sechstel Frauen beworben, und es war dann auch so, dass unter den sechs Ausgewählten eine Frau dabei war: Das zeigt aber lediglich, dass Frauen natürlich genauso gut sind wie Männer. Wir haben bei der neuen Bewerbungsrunde also verstärkt auf Kommunikation, Inspiration und Motivation gesetzt, um mehr Frauen anzusprechen. Immerhin haben wir dadurch den Anteil an Bewerberinnen fast verdoppeln können, wir sind also zumindest auf dem richtigen Weg. Eine Quote können wir rechtlich nicht einführen, da wir bei der ESA ein Arbeitgeber für Chancengleichheit sind. Diversität geht ja ohnehin auch noch weiter. Aus dem Grund haben wir das ParAstronaut-Projekt gestartet, bei dem wir prüfen wollen, ob wir nicht auch mit Menschen mit bestimmten körperlichen Beeinträchtigungen in den Weltraum fliegen können. Das wäre ein Vorteil für unser Team. Ich habe mit Anfang 20 beim Roten Kreuz gearbeitet, unter anderem mit vielen Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Ich habe viele von ihnen für die Resilienz bewundert, die sie an den Tag legten. Sie können mit schwierigen Situationen zum Teil viel besser umgehen als Menschen, die nicht diese Erfahrungen gemacht haben. Und in der Schwerelosigkeit müssen wir ohnehin alle neu lernen, uns fortzubewegen.

So ein wenig haben sie ja schon davon erzählt. Aber was machen Astronauten, wenn sie nicht im Weltall sind, eigentlich den lieben langen Tag?

Der Tag ist leider nicht lang genug für die vielen Jobs, die wir haben. Wir versuchen natürlich, unsere Erfahrung, die wir im Weltraum gemacht haben, weiterzugeben: ich zum Beispiel in der ESA Strategieabteilung und beim Gateway-Projekt. Wir haben dazu noch Auffrischungstrainings, auch wenn wir nicht gerade für eine spezielle Mission trainieren, um weiterhin für Flüge zur Verfügung zu stehen, und zur Not auch einmal kurzfristig einspringen zu können, wenn jemand ausfällt. Also, mir wird nicht langweilig.

Auch Sie mussten, wie so viele von uns, in den vergangenen Monaten eine längere Zeit im Kölner Homeoffice verbringen. Trifft eigentlich der Vergleich mit dem isolierten Leben auf der ISS zu oder ist das Blödsinn?

Ja, ich war jetzt auch fast anderthalb Jahre wie so viele im Home-Office. Beim ersten Lockdown war es tatsächlich ein bisschen so wie auf der ISS, man war in einer neuen Situation und wusste, alle anderen sind es auch, man muss da irgendwie durchkommen. Das hat ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt wie auf der ISS. Der Unterschied ist, auf einer Weltraummission wissen Sie ungefähr, wann sie zurückkehren können, wann es vorbei ist. Insofern glaube ich, dass der Lockdown in mancher Weise härter war für viele Menschen. Bekannte von mir hatten zum Teil wirklich schwierige Situationen in einer kleinen Wohnung mit vielen Kindern. Was die Menschen da erbracht haben, war wirklich eine enorme Leistung.

Wenn sie durch Köln spazieren, werden sie wahrscheinlich oft angesprochen?

Ja, das ist tatsächlich so. Man merkt, dass die Leute sich für den Weltraum interessieren. Und es ist natürlich bisher noch selten, dass man jemanden trifft, der schon einmal im Weltraum war. Das wird sich vermutlich bald ändern.

Sie konnten vergangenes Jahr auch mal der Kölner Enge entfliehen und sind vor den Azoren in die Tiefsee abgetaucht. Können Sie uns das Erlebnis beschreiben?

Ich bin im Rahmen einer Drehreise für eine Wissenschaftssendung zusammen mit der Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, Antje Boetius, in einem Forschungsunterseeboot einen Kilometer tief zum Ozeanboden getaucht. Ich bin vorher gewarnt worden, es sei sehr eng da drin, und ein bisschen bedrückend. Ich habe mich jedoch pudelwohl gefühlt, tatsächlich war es dem Flug in der Sojus-Kapsel sehr ähnlich. Ich konnte das U-Boot steuern, auch das war nicht unähnlich verglichen mit einem Raumschiff. Der ernste Hintergrund war, dass wir dokumentiert haben, wie es um die Tiefsee so steht. Und das war wiederum erschreckend. Auch dort beeinflussen wir Menschen unseren Planeten. Tatsächlich habe ich dort unten ein Stück Müll gefunden, mitten im Atlantik zwischen Europa und den USA.

Welchen Ort, ob irdisch oder außerirdisch, würden Sie denn noch gerne erforschen?

Ganz oben auf meiner Liste stehen Mond und Mars. Ganz einfach, weil sie noch so unbekannt sind und wir von ihnen noch so viel lernen können. Auf dem Mond gibt es riesige Höhlensysteme, vielleicht hunderte Kilometer lang. Aufgrund der niedrigen Schwerkraft haben sie enorme Spannweiten, darin könnte man eine komplette Stadt bauen. Diese Systeme sind noch komplett unerforscht. Aber auch mit der Erde bin ich noch nicht fertig. Weiterhin finde ich die Pol-Region der Erde sehr spannend. Ich war ja selbst schon fünfmal auf Forschungsreisen in der Antarktis, zuletzt auf Meteoritensuche. Ich habe aus mir unbekanntem Grund eine Faszination für solch karge Landschaften. Auch einer der Gründe, warum ich zunächst Vulkanforscher wurde. Vermutlich, weil es dort so anders ist, als das, was man kennt, wenn man hier vor die Tür tritt. Die Welt ist voll von faszinierenden Orten. Ich wünschte, ich könnte sie alle sehen.

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