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„Angst vor Papa“Hat ein Kölner Jugendamt Vorwürfe häuslicher Gewalt verharmlost?

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Ein Kölner Jugendamt spricht sich für das Sorge- und Umgangsrecht eines mutmaßlich gewalttätigen Vaters aus – mit möglicherweise fatalen Folgen.

Ein Kölner Jugendamt spricht sich für das Sorge- und Umgangsrecht eines mutmaßlich gewalttätigen Vaters aus – mit möglicherweise fatalen Folgen.

Eine Frau wirft ihrem Ex-Partner Gewalt gegen das gemeinsame Kind vor. Vom Jugendamt fühlt sie sich nicht ernstgenommen. Damit ist sie nicht allein.  

„Er packt Leo und schlägt ihn im Treppenhaus nieder“, liest Valerie aus ihren Notizen vor. Sie blättert eine der vielen Seiten in ihrem Aktenordner um und fährt fort: „Ich höre sie im Treppenhaus diskutieren. Leo sagt ‚Aua! Aua! Nein, Papa!‘, fängt an zu weinen und schreit ‚Du hast mir weh getan!‘“.

Leo ist Valeries Sohn, er heißt, so wie Valerie, eigentlich anders. Die junge Frau sagt, seit Jahren sei ihr Ex-Partner dem gemeinsamen Sohn gegenüber immer wieder gewalttätig geworden, früher auch Valerie gegenüber. Doch trotz der gut dokumentierten Vorwürfe hat der Vater das geteilte Sorge- und Umgangsrecht für den Jungen im Grundschulalter bekommen.

Kind und Nachbar berichten von Schlägen und Schreien

Valerie kritisiert, dass das für sie zuständige Kölner Jugendamt das Sorge- und Umgangsrecht des Vaters unterstützt habe – obwohl sie dem Amt mehrere Hinweise auf die Gewaltausbrüche vorgelegt habe.

Die junge Mutter hat zum Beispiel Audioaufnahmen von ihrem Sohn gemacht, wenn dieser von Gewalterfahrungen berichtet hat. Einige der Aufnahmen liegen dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vor. Sie beginnen mitten im Gespräch zwischen Mutter und Sohn: „Leo erzählt mir meistens ohne Kontext davon, was bei Papa passiert ist, zum Beispiel während wir etwas spielen oder ich ihn ins Bett bringe“, erklärt Valerie. Anfangs habe sie nicht daran gedacht, die Aussagen ihres Sohnes aufzunehmen, aber dann sei ihr dazu geraten worden: um Beweismaterial zu sammeln.

In einer Aufnahme erzählt Leo, „Angst vor Papa“ zu haben. „Papa hat mit seiner Hand auf meinen Kopf geschlagen, das hat weh getan. Er hat es drei Mal gemacht“, sagt Leo. Die Schläge seien „echt stark“ gewesen. „Papa schreit die ganze Zeit und ich weine die ganze Zeit.“ In vielen Aufnahmen spielt sich das immer gleiche Szenario ab: Leo möchte nicht zu seinem Vater. „Ich will nicht zu Papa, ich möchte immer bei dir bleiben“, sagt er mehrmals zu Valerie.

Auch Nachbarn wollen Zeugen einer eskalierenden Situation geworden sein. Ein Nachbar beschreibt einen Vorfall im Treppenhaus, bei dem er beobachtet habe, wie Leos Vater Beleidigungen und Drohungen gegenüber der Mutter von sich gegeben habe. In diesem Zusammenhang spricht der Nachbar von Schreien „einer männlichen Stimme“ und dem „Weinen eines Kindes“. Situationen wie diese soll es laut dem Nachbarn schon früher gegeben haben.

Nach Urlaub mit dem Vater: Kind hat Gesichtslähmung

Valerie sagt, sie habe das Material gesammelt, weil sie sich vom Jugendamt Hilfe erhofft habe. „Aber die zuständige Sachbearbeiterin sagte mir nur, ich sei unglaubwürdig und überfürsorglich.“ Auf Nachfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ äußerte sich das Jugendamt nicht zu den Vorwürfen, da „aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Angaben zum angefragten Einzelfall gemacht werden dürfen“.

Das Jugendamt teilt jedoch schriftlich mit, Meldungen über häusliche Gewalt würden „grundsätzlich als Indikatoren für eine Kindeswohlgefährdung gewertet“. In der Stellungnahme heißt es: „In Fällen häuslicher Gewalt können sich Sorge- und Umgangsregelungen nicht ohne weiteres an einem Leitbild gemeinsamer Elternschaft ausrichten.“ Wenn das Kind den Umgang verweigere, sei das „ernst zu nehmen“.

Valerie hat eine andere Erfahrung gemacht – mit möglicherweise fatalen Folgen. Sie erzählt, ihr Ex-Partner sei, nachdem er das geteilte Sorgerecht für Leo erhalten habe, mit seinem Sohn in den Urlaub gefahren. „Als er Leo elf Tage später als verabredet zurückbrachte, konnte mein Sohn eine Gesichtshälfte nicht mehr bewegen.“

Bei dem Kind wurde eine akute Gesichtslähmung festgestellt, der Anamnesebericht liegt dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vor. Er diagnostiziert Leo die Schädigung eines Nervs, der vom Gehirn ins Gesicht führt. Eine mögliche Ursache dafür kann Medizinern zufolge ein Trauma durch Verletzungen oder Unfälle sein. In dem Bericht erzählt Leo demnach „selbst und glaubhaft“, dass der Vater ihn „viermal auf den Hinterkopf und ein bis zwei Mal auf den Po“ geschlagen habe.

Laut dem Protokoll, das der gerichtlichen Umgangsregelung zugrunde liegt, räumt der Vater ein, Leo in „zwei oder drei Situationen“ „leicht auf den Hinterkopf“ geschlagen zu haben und gibt sich reumütig. Im Urlaub sei das aber nicht der Fall gewesen, betont der Vater. „Das wird hier sehr übertrieben dargestellt.“  Außerdem gibt er zu, Leo später als vereinbart von der Reise zurück nach Hause gebracht zu haben.

Das Jugendamt berichtet laut Protokoll, mit dem Vater eine Gewaltschutzvereinbarung unterzeichnet zu haben, zusätzlich plane es „Gespräche mit den Eltern“ zu den Gewaltvorwürfen. Mehr Maßnahmen, so steht es in dem Protokoll, hält das Jugendamt nicht für „empfehlenswert, da es irgendwann auch zu viel wird”. Das Amt rät zum Umgang des Vaters mit dem Kind „ohne Diskussionsspielraum“.

Betroffene: Kölner Jugendamt glaubt, sie manipuliere ihr Kind

Seitdem, sagt Valerie, erzähle Leo manchmal, wie der Vater ihn bei den Umgängen einschüchtere und anschreie. „Sehr oft sagt Leo, dass er große Angst vor Papa hat.“ Das Kind habe auch wieder von physischer Gewalt berichtet: Es sei vom Vater auf den Boden gestoßen worden. Valerie habe dem Jugendamt davon erzählt. Daraufhin sei ihr zurückgemeldet worden, dass sie „übertreibe“. Das Jugendamt schrieb in einer E-Mail an Valerie: „Wir sehen derzeit keine Gefährdung für Ihr Kind.“ Zwar bot das Amt in der Mail ein Treffen mit Valerie an. „Aber in der Sitzung ging es nicht um die Gewalt, sondern um den Verdacht, dass ich ein zu großes Misstrauen gegenüber dem Kindsvater hätte“, erzählt die junge Mutter. Das Jugendamt habe Bedenken geäußert, dass Valerie eine Bindung des Kindes zum Vater nicht zulasse und ihr Kind dadurch negativ beeinflusse.

Eine solche Argumentation ist laut der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes „das am weitesten verbreitete Narrativ“ in Jugendämtern und Gerichten. Die Organisation hat knapp 850 Frauen zum Thema Nachtrennungsgewalt befragt. 72 Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen in Sorge- und Umgangsrechtsverfahren „Bindungsintoleranz“ vorgeworfen worden sei. Laut Terre des Femmes geht diese Erzählung zurück auf die veraltete Entfremdungstheorie von Richard Gardner, auch genannt „Parental Alienation Syndrome“ (PAS). Demnach kann ein Kind von einem Elternteil so beeinflusst werden, dass es den Kontakt zum anderen Elternteil verweigert.

Das Bundesverfassungsgericht nannte die Theorie 2023 „überkommen“ und bezeichnete sie „fachwissenschaftlich als widerlegt“. PAS reiche nicht „als hinreichend tragfähige Grundlage für eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung“ und es gebe keinen empirischen Beleg „für eine elterliche Manipulation bei kindlicher Ablehnung des anderen Elternteils“.

Auf Nachfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ äußerte sich das Kölner Jugendamt aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht zur Frage, ob PAS im Fall Leo eine Rolle gespielt habe.

Rechtsanwältin: Mütter werden oft ungerecht behandelt

In Deutschland werden durchschnittlich rund 149.000 Verfahren pro Jahr zum Sorge- und Umgangsrecht geführt. Wie viele dieser Verfahren Vorwürfe häuslicher Gewalt beinhalten, ist nicht bekannt. Doch nach der Einschätzung der Essener Rechtsanwältin Jennifer Nadolny ist häusliche Gewalt in vielen stark konfliktbelasteten Elternschaften „ein großes Thema“. Erhoben würden die Vorwürfe öfter von Müttern als von Vätern. Das deckt sich auch mit der Statistik des Bundeskriminalamtes, nach der 70 Prozent der Betroffenen häuslicher Gewalt weiblich sind.

Nadolny hat bundesweit über 3.000 Verfahren im Familienrecht geführt. In ihrem Buch „Tatort Familiengericht“ schreibt sie über Missstände in Sorge- und Umgangsrechtsverfahren, die sie bei der Arbeit beobachtet hat. Ihrer Erfahrung nach wird „mit Müttern härter ins Gericht gegangen als mit Vätern”. Nadolny höre immer wieder von der an PAS erinnernden Annahme, Mütter würden ihren Ex-Partnern „um jeden Preis die Kinder vorenthalten“. Diese pauschale Aussage sei falsch und fatal, da Gewaltvorwürfe damit beiseitegeschoben werden könnten.

Gesetzgebung verhindert Gewaltschutz

Doch auch die aktuelle Rechtslage erschwert es, Vorwürfe häuslicher Gewalt zu berücksichtigen. Im Gesetz ist verankert, dass zum Wohl des Kindes „in der Regel der Umgang mit beiden Elternteilen“ gehört. Dass diese Rechtsgrundlage „sehr hoch gehängt wird“, beobachtet eine Mitarbeiterin des ersten autonomen Frauenhaus Köln regelmäßig. „Die Übertragung des alleinigen Sorgerechts ist für die Mütter trotz Gewaltvorwürfen aus unserer Erfahrung schwer zu erzielen“, sagt sie. Auch in Verfahren zum Umgangsrecht erlebe die Mitarbeiterin, „dass nur in wenigen Ausnahmefällen dem Kindsvater das Umgangsrecht vollständig entzogen wird.“ Meistens werde ein begleiteter Umgang angeordnet, oder der Umgang werde nur vorübergehend ausgesetzt.

Zwei weitere Frauenhäuser aus NRW schreiben auf Nachfrage ebenfalls, das Sorge- oder Umgangsrecht der Ex-Partner ihrer Klientinnen werde „so gut wie nie“ ausgesetzt.

Zwar schreibt das Gesetz Maßnahmen bei Kindeswohlgefährdung vor. Gerichte sollen im Falle einer körperlichen, geistigen oder seelischen Gefährdung des Kindeswohls unter anderem „Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen“ sowie einen anteiligen oder vollständigen Sorgerechtsentzug verordnen.

Doch was genau unter Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung zu verstehen ist, bleibt laut dem Deutschen Institut für Menschenrechte Auslegungssache und müsse in jedem Einzelfall neu entschieden werden. Dafür, häusliche Gewalt zu berücksichtigen, gebe es im deutschen Kindschaftsrecht „keine ausdrückliche Verpflichtung“. Artikel 31 der Istanbul Konvention zum Schutz vor häuslicher Gewalt verpflichtet Deutschland jedoch dazu, per Gesetz sicherzustellen, dass Gewalt bei Entscheidungen über das Umgangs- und Sorgerecht berücksichtigt wird. Das fordert aktuell auch eine Petition an Bundesjustizministerin Stefanie Hubig (SPD). Über 100.000 Menschen haben unterschrieben.

Hubig will sich laut ihrer Antrittsrede vor dem Bundestag darum zu kümmern, dass „häusliche Gewalt im Sorge- und im Umgangsrecht natürlich auch berücksichtigt“ wird. Gemeint ist ein vorgeschlagenes Gesetz, nach dem der Umgang verhindert werden kann, wenn ein Kind zwar nicht selbst geschlagen wird, aber physische oder psychische Gewalt gegen ein Elternteil mitbekommen hat. Konkrete Vorschläge, die fehlende gesetzliche Verankerung jeglicher Form von häuslicher Gewalt anzugehen, machte Hubig bisher nicht öffentlich.

Ein Leben in ständiger Angst

Für diese Recherche stand die Autorin mit drei weiteren gewaltbetroffenen Frauen aus Köln und Umgebung in Kontakt. Sie alle wollten darüber sprechen, dass ihre Gewaltvorwürfe vom Jugendamt und vor Gericht nicht ernst genommen worden seien. Weil ihre Ex-Partner noch immer das Umgangs- und Sorgerecht haben, fürchten die Frauen um sich und ihre Kinder.

Auch Valerie geht es so. Leos Gesichtslähmung ist wieder verschwunden, nach Angaben der Ärzte sei sie temporär gewesen, sagt Valerie. Laut Anamnesebericht konnte per Untersuchung keine Ursache für die Lähmung festgestellt werden. Ein HNO-Arzt habe jedoch keine Zweifel daran gehabt, dass Leos Beschwerden durch zuvor erfolgte Schläge auf seinen Hinterkopf ausgelöst worden sein könnten, so die Mutter.

Valerie sagt, sie lebe in ständiger Angst davor, wie ihr Sohn vom nächsten Umgang mit dem Vater zurückkommen werde. „Ich fühle mich so ohnmächtig.“ Sie klappt den Ordner zu, in dem sie die Gewaltausbrüche ihres Ex-Partners akribisch dokumentiert hat. Gebracht hat ihr die Mühe nichts.