„Die allermeisten wollen arbeiten“113.000 Kölnerinnen und Kölner erhalten Bürgergeld – Betrug ist selten

Lesezeit 4 Minuten
Martina Würker, Leiterin des Kölner Jobcenters, im Porträt

Martina Würker, Leiterin des Jobcenters, befürwortet das Bürgergeld.

Sie ist wohl eine der umstrittensten Sozialleistungen: Fakten und Einschätzungen zum Bürgergeld – aus Kölner Perspektive.

Die CDU will es abschaffen, der FDP ist es zu hoch, der Paritätische Wohlfahrtsverband findet es zu niedrig. 64 Prozent der Deutschen glauben einer Umfrage zufolge, es verleite Menschen dazu, nicht arbeiten zu gehen. Die Rede ist vom Bürgergeld, der wohl umstrittensten aller Sozialleistungen.

113.000: Mehr als jeder zehnte Kölner bezieht Bürgergeld 

In Deutschland beziehen aktuell rund 5,4 Millionen Menschen Bürgergeld, in Köln sind es knapp 113.000 (Stand: Oktober 2023) – und damit mehr als jeder zehnte Bürger.

Wer glaubt, der Regelsatz sei zu hoch, der kann sich die Zusammensetzung der Summe anschauen: Für eine alleinstehende Person sind monatlich 174,19 Euro für Nahrungsmittel und Getränke vorgesehen, das macht 5,81 Euro pro Tag
Michaela Hofmann, Armuts-Expertin der Kölner Caritas

Zum verbreiteten Vorwurf, das im Januar 2024 von 502 auf 563 Euro angehobene Bürgergeld veranlasse viele Menschen, lieber auf der Couch zu bleiben als zu arbeiten, sagt Martina Würker, Geschäftsführerin des Kölner Jobcenters: „Die allermeisten Menschen wollen arbeiten, sie wollen Teil eines Systems sein und nicht abhängig von Sozialleistungen.“

Ähnlich äußert sich die Kölner Caritas. „Anders als Menschen mit Erwerbseinkommen erwerben diejenigen, die von Bürgergeld leben müssen, keine Rentenansprüche, das wird schnell übersehen“, so Caritas-Armutsexpertin Michaela Hofmann. „Wer glaubt, der Regelsatz sei zu hoch, der kann sich die Zusammensetzung der Summe anschauen: Für eine alleinstehende Person sind monatlich 174,19 Euro für Nahrungsmittel und Getränke vorgesehen, das macht 5,81 Euro pro Tag.“

Bürgergeld: Arbeitnehmer mit 1000 Euro Bruttoverdienst hat 330 Euro mehr als Leistungsbezieher

Schon bei einem Bruttoverdienst von 1000 Euro hat ein Arbeitnehmer nach Berücksichtigung aller staatlichen Leistungen im Schnitt knapp 330 Euro mehr zur Verfügung als ein Bezieher von Bürgergeld. Für geringfügig Beschäftigte sei der finanzielle Vorteil zwar geringer, sagt Martina Würker, das Vorurteil, dass viele Menschen nicht arbeiten wollten, stimme aber schlicht nicht: „Richtig ist, dass in Köln und bundesweit immer mehr Menschen den Anforderungen des Arbeitsmarkts nicht mehr gewachsen sind. Es gibt mehr Menschen mit mentalen oder multiplen Erkrankungen – und solche, die nicht passgenau vermittelt werden können, weil Qualifikationen fehlen.“

Bei knapp einem Drittel der 113.000 Kölner Bürgergeld-Beziehenden stellt sich die Frage nach dem Arbeiten gar nicht: 30.856 von ihnen können oder dürfen nicht arbeiten, zum Beispiel, weil sie zu jung sind. Von den knapp 82.000 erwerbsfähigen Kölnerinnen und Kölnern, die Bürgergeld beziehen, arbeiten rund 10.000 geringfügig oder müssen aus anderen Gründen aufstocken, 9000 machen Weiterbildungsmaßnahmen, 9.500 absolvieren Schule, Studium oder Ausbildung, rund 5500 befinden sich in Erziehung oder Pflege.

Rund zwei Drittel der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten haben keine verwertbare berufliche Qualifikation
Martina Würker, Geschäftsführerin des Kölner Jobcenters

Bleiben rund 48.000 so genannte arbeitslose, aber erwerbsfähige Bürgergeldempfänger. Von diesen sind in Köln 51 Prozent deutsche Staatsbürger und 49 Prozent Ausländer (Bundesweit beträgt der Anteil der Bürgergeldempfänger mit deutschem Pass 56 Prozent). Die meisten ausländischen Bürgergeld-Empfänger kommen in Köln aus der Ukraine, gefolgt von Syrien, der Türkei, Afghanistan, Bulgarien und Rumänien.

„Rund zwei Drittel der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten haben keine verwertbare berufliche Qualifikation“, sagt Jobcenter-Chefin Würker. „Gerade bei den erst kürzlich gekommenen Menschen aus der Ukraine ist die Sprachbarriere ein Hauptgrund dafür, dass viele von ihnen noch nicht arbeiten.“ Nicht wenige von ihnen seien hochqualifiziert, „können aber hier nicht als Ingenieurin oder Bankkauffrau arbeiten“. Die Integration in den Arbeitsmarkt „dauert einfach“.

Das Kölner Jobcenter, sagt Würker, „befürwortet das Bürgergeld, nicht nur, weil es die Lebenssituation vieler Menschen verbessert“: Motivierend wirke sich aus, dass Menschen in Ausbildung mit dem Ziel eines Berufsabschlusses zusätzlich 150 Euro Weiterbildungsgeld erhalten. Auch, dass die Bundesregierung Betroffenen das Bürgergeld für maximal zwei Monate komplett streicht, sofern sie eine Arbeit nachhaltig verweigern, findet Würker richtig. Sozialbetrug gebe es. „Aber das ist nur eine sehr kleine Gruppe.“

Christoph Butterwegge im Porträt vor einer Bücherwand

Der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge

„Das Bürgergeld war im Vergleich zu Hartz IV ein kleiner Fortschritt“, sagt der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge. „Es hat zu Erleichterungen und Verbesserungen der Situation von Transferleistungsbeziehern geführt.“ Die geplante Verschärfung der Sanktionen für Menschen, die eine Arbeitsaufnahme verweigern, hält Butterwegge hingegen „für einen Rückschritt, weil die Haushaltssanierung auf Kosten von Armen und Langzeitarbeitslosen betrieben wird“. Getroffen würde Menschen, „die kognitiv, gesundheitlich und psychisch beeinträchtigt sind, die ihre Behördenbriefe nicht mehr öffnen, und solche, die Schreiben der Jobcenter wegen Sprachbarrieren nicht verstehen“.

Jens Spahn scheint die deutsche Verfassung schlicht nicht zu kennen
Christoph Butterwegge, Armutsforscher

Den Vorstoß von CDU-Gesundheitsexperte Jens Spahn, notfalls müsse die Verfassung geändert werden, um schärfere Sanktionen beim Bürgergeld durchzusetzen, hält Butterwegge für „populistisch und erstaunlich uninformiert“. Spahn scheine die Verfassung „schlicht nicht zu kennen: Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes, auf die sich das Bundesverfassungsgericht bei seinem Sanktionsurteil gestützt hat, dürfen laut Artikel 79 Grundgesetz selbst bei 100-prozentiger CDU-Mehrheit nicht verändert werden“. Wenn es um die Würde des Menschen, die Demokratie und den Sozialstaat gehe, habe der Verfassungsgeber „solch inhumanen Ratschlägen zum Glück einen Riegel vorgeschoben“.

KStA abonnieren