Hauptschule in HeimersdorfJason vermisst den Lärm – ein Besuch in der Notbetreuung

Lesezeit 4 Minuten
In der Notbetreuung gilt: Abstand halten. Die Schüler sitzen verteilt im Raum, ein Betreuer der Rheinflanke unterstützt sie bei den Aufgaben.

In der Notbetreuung gilt: Abstand halten. Die Schüler sitzen verteilt im Raum, ein Betreuer der Rheinflanke unterstützt sie bei den Aufgaben.

Köln – Auf die Frage, wie Schüler mit dieser alles verändernden Pandemie fertig werden, gibt es viele Antworten. Man kann Psychologen zu Wort kommen lassen. Sie sagen: Kindern ist Social Distancing wesensfremd. Also: Lasst sie raus und öffnet die Schulen für alle! Kinderschützer stimmen zu. Sie sagen: Homeschooling ist ungerecht. Man kann Virologen fragen und ihre Studien lesen. Sie sprechen über Viruslast und Infektionsketten, über Kleinstgruppen und Abstandsgebote.

Oder man geht durch das knallgrün-lackierte Schultor am Volkhovener Weg, vorbei an den beigen Containern, die Treppe hoch, durch die einzige geöffnete Tür und fragt Tyrese, Catja, Vinzent, Sheireen und Jason. Das Coronavirus hat die fünf Schüler in der Notbetreuung der Ursula-Kuhr-Hauptschule auf Abstand zusammengeführt. Sie sind eine Schicksalsgemeinschaft, in der jeder an einem eigenen Gruppentisch sitzt.

Catja fehlt Mogli, der Schulhund

Was vermisst ihr? Zuerst meldet sich Catja mit den langen blonden Haaren: „Meine Mitschüler und die Lehrerin.“ Wie lange sie schon in die Notbetreuung geht, weiß sie nicht. Mindestens seit Ostern. Ihre Mutter arbeitet bei einem Pflegedienst. Die Pausen auf dem Schulhof, sagt der zwölfjährige Vinzent. Und seinen besten Freund, den sehe er seit Wochen nur noch per Video, wenn sie gegeneinander Computer spielen.

Sheireen vermisst Mogli. Er ist der Hund der Lehrerin, sein Körbchen steht einsam unter der Leinwand des Beamers. Sie ist hier, weil ihre kurdischen Eltern zum Deutschkurs müssen. Jason sitzt still hinten am Fenster, antwortet als letzter, möchte lieber nicht mit aufs Foto in der Zeitung. Er vermisst den Lärm in der Klasse, sagt er.

Thomas Knobloch nickt zustimmend. „Diese Ruhe fühlt sich merkwürdige an.“ Der Schulleiter sitzt ein Gebäude weiter an seinem Schreibtisch, der aussieht, wie vor dem E-Mail-Zeitalter alle Schreibtische aussahen: mit vielen Papierbergen. Er muss Pläne schreiben, und zwar ständig neue. Die alten Stundenpläne, der Lehrplan, der Mensaplan – wie Drehbücher aus einer anderen Zeit, für einen anderen Film. Dafür gibt es jetzt Hygienepläne.

Flexibler als andere Schulformen

Die Klassen an der Heimersdorfer Schule werden aktuell tageweise in den Hauptfächern unterrichtet, in kleineren Gruppen mit maximal zwölf Schülern, ohne gemeinsame Pause. Zwei Jahrgänge mit jeweils drei Klassen können pro Tag kommen, mehr Räume und Lehrpersonal hat Knobloch nicht. Von 40 regulären Lehrern gehört die Hälfte zur Risikogruppe. Nun kann es passieren, dass eine Gruppe jede Stunde einen anderen Mathelehrer hat.

Die Strukturen, die viele Schüler erst mühsam lernen mussten, weil sie von zu Hause wenig Struktur kennen, sind weg. Ein Teil der Schülerschaft kommt aus Familien mit vielen Kindern in kleinen Wohnungen, oft leben die Eltern von Hartz IV, sprechen nicht gut deutsch – „sozial benachteiligt“ lautet das bekannte Stigma für den Kölner Norden.

„Deshalb sind wir aber auch flexibler als andere Schulformen. Wir sind immer schon näher am Kind“, sagt der Schulleiter. Die Schüler privat anrufen und fragen, wie es ihnen geht, war für seine Kollegen schon vor Corona normal. Seine Mitarbeiter waren immer Kümmerer und Krisenmanager, sagt Knobloch nicht ohne Stolz.

Rheinflanke hat die Betreuung übernommen

In der Notbetreuung arbeitet morgens jeder erst einmal an seinem eigenen Wochenplan. Wenn nach zwei Stunden die Motivation schwindet und Tyrese nicht mehr still sitzen kann, gehen die fünf mit ihren Betreuern von der Rheinflanke in der Turnhalle ein paar Körbe werfen. Das geht auch mit Abstand. Oder Catja und Sheireen kümmern sich um die Pflanzen im Gemüsegarten.

Der Jugendhilfeträger Rheinflanke organisiert eigentlich das Ganztagsangebot an der Schule, nun haben sie die Notbetreuung übernommen. „Das ist auch für uns eine ganz neue Situation“, erzählt Hava Hali. Die Pädagogin koordiniert normalerweise das Nachmittagsangebot der Schule mit Fitness, Boxen, Tanz oder Kunst. Nun schauen sie mittags oft zusammen die Kindernachrichten und besprechen sie.

Eine Null-Risiko-Umgebung ist unmöglich

Die Rheinflanke, 2006 in Köln gegründet und langjähriger Partner von „wir helfen“, versucht in erster Linie durch Sportprojekte, Beziehungen zu Kindern und Jugendlichen aufzubauen. Sie sollen es mit ein bisschen Hilfe einfacher haben, sich in eine Gesellschaft zu integrieren, für die sie gerade hauptsächlich eins sind: Überträger. In einer bundesweiten Studie gab fast die Hälfte der befragten Jugendlichen an, dass ihre Sorgen in der Corona-Krise zu wenig gehört würden.

Das könnte Sie auch interessieren:

Denn während die Straßencafés längst voll sind, ist der Schulhof in Heimersdorf vermutlich noch lange still. „Wir wissen noch nicht, wie es nach den Sommerferien weitergehen soll“, sagt Knobloch. Aber klar ist auch: Die Null-Risiko-Umgebung, die sich das Schulministerium wünscht, ist hier unmöglich herzustellen. Eine Kollegin sei kürzlich an einer Bushaltestelle vorbeigefahren, in der es sich ihre Schüler dicht gedrängt gemütlich gemacht hätten. Sie hielt an, stieg aus, sprach das offensichtliche Problem an. „Die Antwort: Wir dachten das Abstandsgebot gilt nur in der Schule“, erzählt Knobloch. Dort, wo jedes Kind seinen eigenen Gruppentisch hat.

KStA abonnieren