Meine RegionMeine Artikel
AboAbonnieren

PorträtNie den Hitlergruß gezeigt

Lesezeit 5 Minuten

Elf Kinder hatten die Kusserows, drei überlebten die Nazi-Diktatur nicht. Hans Werner (mit Hund) war das zweitjüngste Kind.

Pesch – Von den Zeugen Jehovas hat Hans Werner Kusserow sich fünf Jahre nach dem Krieg verabschiedet. Er war noch ein paar Jahre für die Glaubensgemeinschaft von Haustür zu Haustür getingelt, „erfolgreich verkaufen konnte ich immer. Aber ich wollte irgendwann nicht mehr eingeengt werden. Von niemandem.“ Als er dann begonnen habe, die Familiengeschichte aufzuarbeiten, „war es vorbei mit meinem Glauben an die Glaubensgemeinschaft“. Kusserow sagt das gelassen lächelnd. Seine Stimme ist die eines jungen Mannes geblieben.

Der junge Mann ist vor ein paar Tagen 84 Jahre alt geworden. Weil seine Frau dieses Jahr gestorben ist, trägt er schwarz. Zusammengerechnet 46 Jahre hat Kusserows dreizehnköpfige Familie in Konzentrationslagern, Zuchthäusern und Gefängnissen verbracht. Zwei Brüder, die den Kriegsdienst verweigerten, wurden von den Nazis ermordet, ein weiterer starb an den Folgen der KZ-Haft. Die strengen Bibelforscher, wie die Zeugen Jehovas bis 1931 genannt wurden, waren während der Nazi-Diktatur verboten.

Religion abgeschworen

Die mittelalterlich-christliche Weltsicht samt Ablehnung vieler weltlicher Freuden, die Ankündigungen des nahen „Krieg Jehovas“, der die Erde in Schutt und Asche legen werde, das ewige Hochhalten der Zeitschrift „Wachtturm“ und Missionieren – all dem steht Kusserow seit Anfang der 1950er Jahre sehr distanziert gegenüber.

Der Religion hat er abgeschworen, an ein Leben nach dem Tod glaubt er so wenig wie an den Gott Jehova, der nach den Vorstellungen der Glaubensgemeinschaft das Universum erschaffen haben soll. „Aber dass die Zeugen sich geweigert haben, den Hitlergruß zu zeigen, dass sie den Kriegsdienst verweigert haben und nie die Hakenkreuzflagge verehrt haben, das war gut.“

Auch er selbst habe sich als kleiner Junge geweigert, den Arm zu Ehren Hitlers zu strecken. Hans Werner Kusserow wurde im Sommer 1939 von der Gestapo in ein Erziehungsheim der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt verschleppt. Er erzählt von einem brutalen Lehrer, der den Rohrstock an seinem Rücken zerbrechen ließ, schüttelt sich – und lacht. Er habe das alles abgestreift, „ich war immer lustig, dafür kann ich nichts, das ist meine Natur“. Er hatte natürlich auch Glück: Seine Pflegeeltern versteckten ihn, nachdem er auf einen Einberufungsbefehl der SS 1944 nicht reagiert hatte. „Dabei hätte ihnen das Konzentrationslager gedroht.“

Kann nicht still sitzen

Zu Kusserows Natur zählt seit dem Krieg auch die Rastlosigkeit. In 15 Betrieben hat der gelernte Elektriker von der Lehre 1946 bis zur Rente 1993 gearbeitet. „Ich habe es außer im letzten Betrieb nirgends länger als zweieinhalb Jahre ausgehalten“, sagt der Mann, der seit 42 Jahren in Pesch lebt. „Noch heute kann ich nicht lange still sitzen. Erstaunlich eigentlich, dass ich es 58 Jahre mit nur einer Frau ausgehalten habe.“

Wenn er da so sitzt, munter gestikulierend, stets den Schalk im Nacken, von seiner Rastlosigkeit erzählt und seine Furchtlosigkeit durchblicken lässt, könnte man Kusserow für einen Verwandten des Kölner Spaßmachers Oliver Pocher halten. Auch der hatte als Kind die Schule von „Jehovas Organisation auf Erden“ durchlaufen und war mit dem Wachtturm von Tür zu Tür gezogen. Auch Pocher gilt heute als angstfrei, grenzenlos optimistisch, auch: rastlos.

Auf dem Wohnzimmertisch liegen Zeitungsschnipsel und die selbst verfasste Familienbiografie. 1970, Kusserow war mit seiner Frau und den drei Kindern gerade nach Pesch gezogen, erschien sein Buch „Der lila Winkel – Die Familie Kusserow – Zeugen Jehovas unter der Nazi-Diktatur“ bei einem Bonner Verlag. Lila Winkel mussten die Zeugen Jehovas als Erkennungszeichen im KZ tragen. 1990 erschien ein englischsprachiger Dokumentarfilm über das Familienschicksal der Kusserows. Die Geschichte der Familie ist in einem Holocaust-Gedächtnis-Museum in Washington zu sehen, derzeit werden die Unterlagen der Familie vom Militärhistorischen Museum in Dresden digitalisiert. Auch in einer Ausstellung dort können sich Besucher über das Schicksal der Familie Kusserow informieren. Wunderlicherweise sind trotz der Deportationen und Morde, trotz ständiger Hausdurchsuchungen während des Dritten Reichs fast alle Bilder, Briefe, Disziplinarverfahren und Strafbescheide erhalten geblieben. Hans Werner Kusserow ist einer der letzten und wichtigsten Zeitzeugen, wenn es um die Verfolgung der Zeugen Jehovas durch die Nazis geht.

Am erfolgreichsten beim Verkaufen

Zu der Glaubensgemeinschaft habe es die Familie übrigens aus einer doppelten Enttäuschung heraus getrieben, erinnert sich Kusserow. Sein Vater sei einerseits enttäuscht gewesen, dass Kaiser Wilhelm II. 1918 ins niederländische Exil floh; „als der evangelische Pfarrer dann in einer Predigt gegen die Bibelforscher wetterte, war das Interesse meiner Eltern geweckt.“ Dass sein Zögling Hans Werner sich schon als Jugendlicher lieber fernhielt von der Glaubensgemeinschaft, gefiel dem strengen Vater nicht – er drängte ihn nach dem Krieg, auszuziehen.

Es folgten rastlose Jahrzehnte der Arbeit. „Am erfolgreichsten bin ich immer beim Verkaufen gewesen. Egal ob es Schaltgeräte, Leuchten oder Messgeräte waren.“ Heute schreibt Hans Werner Kusserow die eigene Lebensgeschichte auf, er malt, zeichnet und freut sich, wenn seine Kinder, Enkel und Urenkel zu Besuch kommen. Seine zwei noch lebenden Geschwister versuchten noch heute, ihn wieder für die Zeugen Jehovas zu gewinnen. Kusserow sagt: „Ich lasse sie ausreden, dann reden wir über ein anderes Thema.“

Hans Werner Kusserows familienbiografisches Buch „Der lila Winkel“ (Kusserow Müller Selbstverlag, 2005) ist leider nicht mehr im Buchhandel erhältlich.