Folgen von Keim-Ausbruch in Kölner Praxis„Nach der Spritze war nichts wie vorher“

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Keime Ottersbach

Ursula Susenberger-Ottersbach und ihr Mann Günther (†)

Köln – Hans R. lebte ein entspanntes Rentnerleben. Am liebsten war er in seinem Kalker Schrebergarten, beschnitt die Obstbäume, mähte den Rasen, jätete Unkraut oder spielte mit seinem Enkelkind, das er von der Schule abholte und nachmittags betreute. Seit Sommer 2018 war der drahtige Rentner wegen Hüft- und Rückenbeschwerden in Behandlung. Die Spritzen, die ein Orthopäde ihm im Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) in der Kölner Zeppelinstraße mit Hilfe eines Computer-Tomografen in die Nähe des Rückenmarkskanals injizierte, halfen zuverlässig.

Aus der Zeitung die Ursache der Krankheit erfahren

Wenige Tage, nachdem er im Januar 2019 erneut eine Spritze erhalten hatte, bekam der 68-Jährige Fieber. Im Krankenhaus wurde zunächst eine Grippe diagnostiziert. Die nächsten neun Monate verbrachte R. in Krankenhäusern und Reha-Kliniken, die er als Pflegefall wieder verließ. Autofahren, die Einkäufe erledigen, die Stufen bezwingen, die zum Schrebergarten führen, allein auf die Toilette gehen – all das kann er nicht mehr ohne fremde Hilfe. „Die Infektion hat einen Totalschaden verursacht“, sagt seine Frau. „Nach der Spritze war nichts mehr wie vorher.“

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Hans R. (rechts) wurde nach der Keiminfektion zum Pflegefall.

Als die Ärzte Ende Februar 2019 eine Hirnhautentzündung nach einer Infektion mit dem Keim Pseudomonas Aeruginosa feststellten und R. mit einem Hirnwasserabfluss auf der Merheimer Intensivstation lag, rätselten sie, wo er sich angesteckt haben könnte. „Erst, als der Kölner Stadt-Anzeiger am 14. Mai 2019 erstmals und dann immer wieder über den Keimausbruch in der Praxis berichtete, wussten wir Bescheid. Es stellte sich heraus, dass auch ich mich in der Klinik infiziert hatte“, erinnert sich R. „Das so spät zu erfahren, war ungeheuerlich.“

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Der größte Ausbruch des Keims in Europa

Aus der Zeitung erfuhren der Rentner und seine Frau, dass sich mehrere Dutzend Patientinnen und Patienten, die eine Spritzentherapie im MVZ erhalten hatten, mit dem Bakterium infiziert hatten. Dass es sich um den größten nachgewiesenen Ausbruch dieser Art in ganz Europa handelte. Hans R. las von einem Mann namens Franz O., der nach schweren Komplikationen bei der Behandlung der Infektion gestorben war. Im „Kölner Stadt-Anzeiger“ sprachen auch Patienten, die wie er nicht oder erst sehr spät von der Klinik informiert worden waren.

Versicherung äußert sich nicht

Wie geht es den Betroffenen heute? Wurden sie entschädigt? Wie weit ist die Staatsanwaltschaft mit der Aufklärung des Skandals? Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat sich noch einmal intensiv mit dem Fall beschäftigt. Auf Anfrage wollte sich die HDI-Versicherung, die für die Regulierung der im Medizinischen Versorgungszentrum entstandenen Schäden verantwortlich ist, jedoch nicht äußern. MVZ-Geschäftsführer Herbrik verwies auf das „laufende Verfahren“, weshalb er die von uns gestellten Fragen nicht beantworten könne. Nur so viel: „Wir möchten an dieser Stelle erneut bestätigen, dass wir die Behörden im Rahmen der Aufklärung des Sachverhalts, den wir selbst zur Anzeige gebracht haben, nach besten Kräften unterstützen.“

Nach vielen Monaten in Kliniken ein Pflegefall

An einem wolkenlosen Vormittag sitzt Hans R. auf einem Rollator in der Küche seiner Kalker Wohnung und erzählt. Es riecht nach Putzmittel, an der Wand über dem Küchentisch hängen Familienfotos, die Tochter, das Enkelkind, zusammen mit Opa und Oma, Bilder aus unbeschwerten Zeiten. Seine Frau sitzt neben ihm. Seit ihr Mann aus dem Krankenhaus entlassen wurde, weicht sie nicht von seiner Seite. Wenn er etwas sagt und mit einer Hand gestikuliert, statt sich am Rollator festzuhalten, steht sie auf und wendet sich ihm zu – um sofort zur Stelle zu sein, falls er fallen sollte.

Wenn Hans R. am Rollator vom Flur zum Fenster in die Küche trippelt, dauert das lange. „Ich bin oft schwindelig, meine Beine funktionieren nicht richtig, und dann falle ich immer mal wieder“, sagt er. „Zuletzt vor zwei oder drei Tagen“, sagt sie. Für seine Frau ist es selbstverständlich, ihn zu pflegen. „Ich kann es noch, deswegen mache ich es. Ich würde auch jetzt wegen Corona ungern wechselnde Pfleger in die Wohnung lassen“, sagt sie. „Es ist schwer, dass ich so auf meine Frau angewiesen bin“, sagt er. Er guckt sie an, müde, dankbar. „Wir machen das schon, Hans“, sagt sie.

Fahrlässige Körperverletzung in 41 Fällen?

Die Staatsanwaltschaft Köln ermittelt im Zusammenhang mit den Keim-Infektionen in 41 Fällen wegen fahrlässiger Körperverletzung, in einem weiteren Fall geht es um fahrlässige Tötung. Nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ hat die Behörde zudem 288 weitere Patienten angeschrieben, die im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 1. März 2019 im MVZ behandelt wurden.

Auch in einigen dieser Fälle dauerten die Untersuchungen noch an, teilt Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer mit. Die Praxis sei mehrfach begutachtet worden, nachdem der Keim-Verdacht bekannt wurde. Am 3. und 5. März 2019 untersuchten Hygieniker der Uniklinik Köln nach Informationen des „Kölner Stadt-Anzeiger“ die Praxisräume. Ein Keim wurde im Siphon eines Waschbeckens entdeckt. Jedoch nicht der Bakterienstamm, der im Körper der Infizierten nachgewiesen wurde.

Gutachten stellt schwere Hygienemängel fest

„Es ist aber für uns nicht anders erklärbar, als dass der Keim im Rahmen der Infiltrationstherapie in die Patienten gelangt ist“, sagte damals MVZ-Geschäftsführer Michael Herbrik. Außer dem Befundbericht der Uniklinik Köln gibt es noch ein vom Kölner Gesundheitsamt in Auftrag gegebenes Gutachten. Die Ergebnisse der Expertise liegen dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ vor. Demnach soll die Praxis zahlreiche Hygienevorschriften verletzt haben.

Medikamente für die Spritzentherapie sollen direkt neben dem Waschbecken und ohne Spritzschutz gelagert worden sein, Spritzen in einer Nierenschale aus Pappe auf dem Rand des Waschbeckens im Behandlungsraum. Das Kontrastmittel sei nicht aus Einwegampullen, sondern aus einer 500-Milliliter-Flasche ohne Anbruchdatum entnommen worden. Auch bei 100-Milliliter-Einmalgebinden mit Natriumchloridlösungen, die für Spülungen eingesetzt worden seien, sollen Hinweise auf das Datum der Erstverwendung gefehlt haben.

Anwalt Boris Meinecke, spezialisiert auf Medizinrecht, spricht angesichts „solcher Zustände“ von „eklatanten und unverständlichen Mängeln“: „Da wurde mit dem Leben der Patienten gespielt.“ Meinecke vertritt neun Betroffene. „Teilweise mit schwersten Beeinträchtigungen bis hin zu Lähmungserscheinungen und absoluter Pflegebedürftigkeit.“

Streit um Entschädigungssummen

Die Anwälte der Versicherung, die für die Regulierung der Schäden einstehen müsste, würden auch bei Betroffenen mit schweren Beeinträchtigungen bisher lediglich sogenannte Risikovergleiche anbieten, sagt Meinecke. „Ohne Anerkennung der Schuld wird eine einmalige Abfindung offeriert, die nur einen Bruchteil dessen ausmacht, was meinen Mandanten eigentlich zusteht.“ Hans R. fordert über seinen Anwalt mindestens 470 000 Euro Schadensersatz. Lediglich 70 000 Euro hat er bislang erhalten.

Wenn er sich an die dramatischen Momente im März 2019 erinnert, wirkt er gefasst. Einige Tage nach der zweiten Spritze habe er sich plötzlich unwohl gefühlt. „Ich begann zu zittern, hatte keine Kraft mehr. Ich bekam Temperatur, es wurde ein Infekt diagnostiziert, aber es ging mir immer schlechter.“ Er habe sich mehrfach übergeben müssen, im Krankenhaus sei dann deutlich später die Hirnhautentzündung festgestellt worden.

Betroffene fühlen sich nicht informiert

„Es gab viele Komplikationen, ich musste einen Schrittmacher mit Defibrillator bekommen, aber von all dem weiß ich nicht viel. Die Monate im Krankenhaus habe ich wie im Delirium verbracht“, erzählt Hans R. Wirklich müde und ratlos mache ihn jetzt das Gefecht zwischen seinem Anwalt und den Juristen der Versicherung, die für den Schaden aufkommen soll.

„Die Gegenseite behauptet, dass nicht nachweisbar sei, welche Gesundheitsschäden ursächlich auf den Keim zurückzuführen sind. Vielleicht spielen die aber auch einfach auf Zeit“, mutmaßt der Kölner. Dass ihr Mann ein Pflegefall sei, damit komme sie schon irgendwie klar, ergänzt seine Frau. „Immer noch wütend bin ich aber, dass wir nicht rechtzeitig über den Keimausbruch informiert wurden. Denn dann hätte man meinen Mann auch früher richtig behandeln können. Vielleicht ginge es ihm dann heute deutlich besser.“

Arzt soll Patienten nicht informiert haben

Mitte März 2019 habe der Arzt, der ihren Mann im MVZ betreut habe, angerufen und sich nach dem Befinden ihres Mannes erkundigt. „Als ich dem Doktor erzählt habe, er liege auf der Intensivstation, es gehe ihm sehr schlecht, ob er sich das erklären könne, hat er mich lediglich ausgefragt, was er denn genau hat. Davon, dass verunreinigte Spritzen verwendet worden waren, war keine Rede. Von einem Keim-Ausbruch schon gar nicht.“ Dem MVZ war der Verdacht bereits seit Anfang März bekannt. Offiziell jedoch informierte die Praxis ihre Patientinnen und Patienten erst Ende März über den Keimausbruch. Das Schreiben kam allerdings längst nicht bei allen Betroffenen an.

Anwalt glaubt an Behandlungsfehler

Die „Nichtreaktion der Beschuldigten“ sei ein „grober Behandlungsfehler“, sagt Anwalt Meinecke: „Sofort nach Bekanntwerden des ersten Verdachtes am 2. März 2019 hätten meine Mandanten informiert werden müssen. Bei derartigen Infektionen zählt jede Stunde.“ Auch angesichts der „krassen Hygiene-Fehler“ fordert der Anwalt eine Umkehr der Beweislast. Bei „groben“ Behandlungsfehlern sieht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes eine Umkehr der Beweislast vor. Ob Fehler „grob“ waren oder nicht, muss im Einzelfall immer ein Richter entscheiden.

Die Konsequenz der Beweislastumkehr jedenfalls wäre erheblich: Bei körperlichen Beschwerden, bei denen Zweifel aufkommen, ob sie Folge der Keim-Infektion sind, müssten die Betroffenen die Ursächlichkeit nicht mehr nachweisen. Sie bräuchten nur noch glaubhaft machen, dass die Beeinträchtigungen vielleicht damit zu tun haben. Das Oberlandesgericht Köln hat entschieden, dass dann schon eine Wahrscheinlichkeit von fünf Prozent ausreicht. „Es darf also nur nicht gänzlich unwahrscheinlich sein“, so Meinecke.

500 Antibiotika-Infusionen

Etwa 500 Antibiotika-Infusionen, ein halbes Jahr immer wieder Kliniken und jetzt ein Leben, das ohne Schmerzmittel nicht möglich ist. „Wenn das mal alles wäre“, sagt Inge A, schüttelt den Kopf und fährt sich mit der rechten Hand durch das schwarze Kurzhaar.

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Ursula Susenberger-Ottersbach verlor ihren Mann

„Die Inge“ sei eine Frau, auf die man sich verlassen könne, die belastbar ist, auch wenn es schwierig wird, berichten Freunde. Geboren in einfachen Verhältnissen, hat sie ein Leben lang gearbeitet, zuletzt als Produktionsleiterin beim Fernsehen. „Jetzt sitze ich manchmal stundenlang auf dem Sofa, starre die Wand an, bin vollkommen antriebslos und fühle mich hilflos“, sagt Inge A. und springt vom Wohnzimmertisch auf. Sie läuft unruhig hin und her, als ob es etwas zu tun gäbe. Die Tränen kann sie auch mit Mühe nicht verbergen, als sie sich nach ein paar Sekunden wieder an den Tisch setzt. „Es sind diffuse Ängste, die mich manchmal überwältigen.“ Die ihr Grundvertrauen so tief erschüttert haben, dass es ihr schon schwer fällt, die Wohnung zu verlassen. „Aus Sorge, es könnte wieder irgendetwas passieren.“

Hirnhautentzündung

Inge A. ist auch eine der Patientinnen, die im Medizinischen Versorgungszentrum behandelt wurden. Mit einer CT-gesteuerten Spritze in den Rücken sollten ihre Schmerzen an der Wirbelsäule bekämpft werden. Einige Tage nach der Injektion, am 8. Februar 2019, ist sie als Notfall ins Krankenhaus eingeliefert worden. Der Keim Pseudomonas Aeruginosa, der im Trinkwasser und fast überall in der Umwelt vorkommen kann, hatte eine lebensbedrohliche Hirnhautentzündung verursacht.

Eine Woche wie im Delirium, die Erinnerungen an diese Zeit sind schwach. „Erst im Nachhinein habe ich verstanden, dass es auf Messers Schneide stand“, sagt die Kölnerin. Die Monate danach werden zur Tortur. Auch wenn die Ärzte hoffen, sie hätten die Infektion endlich im Griff, kommt der Keim immer wieder zurück. Die Entzündungswerte können nur im Gehirnwasser verlässlich gemessen werden. Deshalb muss das Rückenmark der Rentnerin punktiert werden.

„Wertvolle Zeit für Behandlung verloren“

So häufig, dass sie im November 2020 an den Vernarbungen operiert werden muss. „Drei Stunden hat das gedauert“, sagt Inge A. Die Schmerzen in der mittlerweile versteiften Lendenwirbelsäule seien geblieben. Ohne Medikamente liege sie nachts wach. „Das strahlt aus bis in die Beine und brennt dann wie die Hölle.“ Hinzu kämen häufige Kopfschmerzen.

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Schon einen Tag nachdem sie am 1. Februar 2019 im Medizinischen Versorgungszentrum die verhängnisvolle Injektion erhalten habe, seien bei Frau A. „richtungsweisende Symptome auf eine mögliche Hirnhautentzündung“ zu sehen gewesen, schreibt der vom Anwalt der Betroffenen beauftragte Gutachter Professor Rainer Schmitz. Wertvolle Zeit für eine frühe und erfolgreiche Behandlung sei „vermeidbar und fehlerhaft verloren“ gegangen. „Frau A. erlitt damit die schwerste denkbare Komplikation mit einer lebensbedrohlichen Meningitis und Sepsis aufgrund eines Hygienefehlers im MVZ Köln."

Keime Anwalt Meinecke

Anwalt Meinecke

Für die Schäden hat ihr Anwalt etwa 100 000 Euro von der Versicherung des MVZ verlangt. Die Gegenseite bietet bisher nur 18 700 Euro an.

Am zweiten Todestag steht Ursula Susenberger-Ottersbach am Grab ihres Mannes. Sie drapiert rote Rosen mit großen Blüten neben der Stele. „Die hat er am liebsten gemocht“, sagt sie, bevor eine Flut von Bildern sie einholt. Susenberger-Ottersbach erinnert sich, wie ihr Mann zwei Tage nach der Spritze im MVZ starke Schmerzen bekam. Sie denkt an die Operationen, die immer neuen Entzündungswellen, die Ratlosigkeit der Ärzte. Sie erinnert sich an den Kampfeswillen ihres Mannes Franz Günther, seine schwindenden Kräfte, die Tage und Nächte händchenhaltend am Krankenbett. An seinen Tod nach einer Notoperation am 15. April 2019. Die Wut, nie einen Informationsbrief über den Keimausbruch erhalten zu haben, der doch angeblich an alle Betroffenen verschickt worden ist, überkommt die Witwe immer wieder.

„Gerechtigkeit war ihm am wichtigsten“

„Günther war so fit, hat so viel Sport gemacht und penibel auf seine Ernährung geachtet. Wir waren uns beide sicher, dass er mich überlebt“, sagt sie. Zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes wolle sie „abschließen mit dem Ganzen, es kostet mich zu viel Kraft“. Auf keinen Fall wolle sie als Zeugin in einem möglichen Gerichtsverfahren aussagen. „Das könnte ich nicht ertragen. Aber vielleicht hätte Günther es gewollt, dass ich klage. Ihm war nichts wichtiger als Gerechtigkeit.“

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