Interview mit Renate Blum-Maurice„Ganze Stadtteile fallen auseinander“

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Renate Blum-Maurice

Renate Blum-Maurice

Köln – Frau Blum-Maurice, Sie überblicken drei Jahrzehnte Arbeit mit Kindern und Familien. Wie haben sich die Probleme in dieser Zeit in Köln verändert?

Am gravierendsten ist die massive Zunahme der Kinder- und Familienarmut, die auch hier in Köln deutlich spürbar ist. Inzwischen leben hier mehr als 20 Prozent der Kinder in relativer Armut. Dieser Eindruck verstärkt sich noch durch die Spaltung der Gesellschaft.

Woran machen Sie das in Köln fest?

Wir sehen, dass ganze Stadtteile auseinanderfallen, wo es keine Mischung mehr gibt, sondern nur noch Armut. Andere kommen mit der Welt von Kalk, Chorweiler oder Finkenberg nie in Berührung. Oder mit dem Kölnberg in Meschenich.

Da müssen Sie mal durchspazieren. Die Wohnungen sind teilweise in einem erbarmungswürdigen Zustand, weil sich die Eigentümer auf dem privaten Wohnungsmarkt nicht für den Zustand der Wohnungen zuständig fühlen und alles verkommen lassen. In so einem Umfeld verstärken sich die Verwahrlosungsfaktoren gegenseitig.

Was müsste aus Ihrer Sicht getan werden, um hier Abhilfe zu schaffen?

Wir bräuchten viel mehr sozialen Wohnungsbau. Ich würde mir wünschen, dass gerade in den angesprochenen Vierteln mehr Wohnungen von der GAG übernommen würden, statt das der Privatwirtschaft zu überlassen. Außerdem bräuchten wir noch mehr soziale Betreuung in diesen Vierteln. Finanziell wäre für die Familien eine bedingungslose Kindergrundsicherung, wie sie der Kinderschutzbund fordert, sehr wichtig.

Und schließlich qualitativ bessere Kinderbetreuung, für die mehr Geld ausgegeben werden müsste. Etwa für mehr Sprachförderung, damit Kinder mit Migrationshintergrund nicht schon im ersten Schuljahr abgehängt werden.

Der Kinderschutzbund kommt ja in Köln durch seine Arbeit mit ganz vielen dieser Familien in Kontakt...

Das ist extrem wichtig, um die sozialen Probleme wirklich in den Blick zu nehmen und uns dort möglichst früh als Gesprächspartner anzubieten.

Gab es in den Jahren Ihrer Arbeit auch positive Entwicklungen?

Es hat sich in dieser Zeit verändert, dass es viel mehr Aufmerksamkeit gibt für Kinder, ihr Wohl und ihre Rechte. Im Jahr 2000 ist endlich das Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen worden.

Dafür hat der Kinderschutzbund in Deutschland lange gekämpft und wir haben uns auch in Köln mit dem „Bündnis für eine gewaltfreie Erziehung“ sehr dafür eingesetzt, dass dieses Recht bekannt wird und Eltern bei der Umsetzung Unterstützung erhalten. Dadurch ist ein respektvoller Umgang mit Kindern in vielen Familien besser geworden.

Wie hat sich der Zulauf zu Ihren Hilfsangeboten entwickelt?

Es gehört ebenfalls zu den positiven Trends, dass es viel selbstverständlicher für Eltern geworden ist, auch Hilfen etwa durch Kurse anzunehmen. So haben viele Kölner Eltern zum Beispiel den Kurs „Starke Eltern – Starke Kinder“ des Kinderschutzbundes in ihrer Erziehungsarbeit als wertvolle Hilfe erlebt. Dabei geht es darum, dass einerseits Eltern zu ihrem Stil finden und sie andererseits ein klares Geländer für ihr Erziehungsverhalten bekommen. Der Zulauf hat natürlich auch mit einer gewachsenen Verunsicherung zu tun.

Inwiefern?

Vor dem ersten Kind hat heute eine junge Mutter oft noch nie ein Kind auf dem Arm gehabt. Gleichzeitig gibt es 999 Ratgeber. Und Freunde, Nachbarn, Familie, alle sagen einem, wie es geht. Nur jeder sagt etwas anderes. Dazwischen dann die gestresste Mutter, die es gut und richtig machen will. Dabei wird oft das intuitive Elternverhalten verschüttet. Unsere Aufgabe ist es, hier ein Gegengewicht zu schaffen: Ziel ist es, möglichst früh eine gefestigte Beziehung zum Kind aufzubauen und sich und seiner Intuition wieder mehr zu trauen.

Für Eltern mit Migrationshintergrund und erst recht mit Fluchterfahrung ist die Verunsicherung ja noch deutlich größer.

Das stimmt, von daher ist wichtig, dass wir hier in Köln besonders viele dieser Familien erreichen – wie etwa über unser Elterncafé in Kalk, wo 80 Prozent der Eltern Migrationshintergrund haben. Bei vielen dieser Eltern ist die Verunsicherung sehr hoch, weil da auch noch die Erziehungsideale der Herkunftskultur mit unseren vereinbart werden müssen.

Viele Mütter und Väter mit Migrations- oder Fluchthintergrund fragen sich, wie das hier eigentlich geht mit der Erziehung und was hier wichtig ist. Über allem schwebt gerade bei Menschen, die aus autoritären Staaten hierher geflüchtet sind, die Angst vor dem Staat: Sie fürchten, dass das Jugendamt ihnen die Kinder wegnimmt, wenn sie Fehler machen.

Was ist der Schwerpunkt Ihrer Arbeit gewesen, mit der Sie den Kinderschutzbund in Köln geprägt haben?

An erster Stelle der Einsatz für die Rechte und das Wohlergehen von Kindern. Dabei war für mich ein besonderer Schwerpunkt, Hilfen so anzubieten, dass Eltern und Kinder, Kooperationspartner und das Team sich ernst genommen und respektiert fühlen. Um Hilfen anzunehmen, brauchen Menschen in Schwierigkeiten das Gefühl, nicht verurteilt zu werden, Hoffnung und Vertrauen.

Die im Kinderschutz so wichtige Zusammenarbeit im Team und mit anderen Fachleuten gelingt nur mit klaren zuverlässigen Absprachen, Wertschätzung für die Kompetenz der anderen und auf Augenhöhe. Auch die Entwicklung der Hilfen in der frühen Kindheit spielte eine große Rolle, da dort die Weichen gestellt werden. Neben der Familienberatung haben wir deshalb im Kinderschutz-Zentrum niedrigschwellige Angebote im Stadtteil entwickelt. Dort geschehen Kontakt und Unterstützung ganz zwanglos.

Wie hat das Thema Mediennutzung in Ihre Arbeit Eingang gefunden?

Es nimmt in unserer Arbeit mit Eltern wie mit Kindern und Jugendlichen einen immer breiteren Raum ein. Nur ein Beispiel: Früher haben die Mütter beim Stillen ihrem Kind ins Gesicht geschaut, heute schauen sie oft aufs Smartphone. Der Blickkontakt, der Kindern Sicherheit gibt, fällt dann weg, weil ein Smartphone dazwischen ist. Früher hat man den Kindern auf dem Spielplatz beim Spielen zugeschaut, heute schaut man zwischendurch nach den Kindern und sonst aufs Smartphone.

Das hat Einfluss auf die Bindungssicherheit von Kindern und es ist ungemein wichtig, dass wir Eltern dafür sensibilisieren, weil es eine große Rolle spielt für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Ebenso wichtig ist eine Sensibilisierung für die Gefahren, die für Kinder und Jugendliche im Netz lauern, das stellen wir beim Kinder- und Jugendtelefon und in der Familienberatung zunehmend fest.

Was macht Ihnen sonst noch Sorgen?

Ganz klar die zunehmende Normierung des kindlichen Verhaltens. Anderssein wird pathologisiert. Nach der Internationalen Klassifikation von Krankheiten gilt inzwischen sogar Schüchternheit als Krankheit. Kinder und ihre Eltern bekommen zunehmend das Gefühl, sie müssten einer Verhaltens- und Aussehens-Norm entsprechen, sonst sind sie falsch. Das ist kontraproduktiv für eine gesunde Entwicklung. Ich werbe dafür, Kinder mehr in ihrer Eigenheit anzuerkennen und zu fördern.

Immer mehr Kinder erleben die Trennung der Eltern. Gibt es angesichts dieser größeren gesellschaftlichen Normalität einen entspannteren Umgang der Eltern mit der Trennung als Paar bei gleichzeitiger gemeinsamer Elternverantwortung?

Nein. Wir sind zunehmend besorgt über den oft unversöhnlichen Streit von Eltern nach der Trennung. Die Trennung von Eltern können Kinder gut verarbeiten, wenn beide im guten Kontakt zum Kind bleiben, sich darüber auch einigen können. Aber es schadet Kindern erheblich, wenn sie sich hin- und hergerissen fühlen zwischen Eltern, die sich bekämpfen.

Zur Person

Renate Blum-Maurice hat den Kinderschutzbund Köln 29 Jahre fachlich geleitet. Die Psychologin und Familien- und Kindertherapeutin hat in Köln die Bereiche Familienberatung, präventiven Kinderschutz im Stadtteil und Hilfen in der frühen Kindheit mit aufgebaut. Ihre Nachfolgerin ist Maria Große Perdekamp. (ari)

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