Karneval und KriegWie Geflüchtete aus der Ukraine den Kölner Fastelovend erleben

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Kneipenkarneval im Deutzer Brauhaus: Eine Gruppe Frauen lacht in die Kamera

Katerina Kovalenko aus Charkiw (r. schwarzes Kleid mit weißen Punkten) feierte im Deutzer Brauhaus

In Ihrer ukrainischen Heimat ist Krieg, in Köln Karneval. Wie fühlt sich das an? Wir haben Ukrainerinnen auf Sitzungen und im Kneipenkarneval begleitet.

Morgens um 10 Uhr in der Schule Kölsch und Sekt trinken, unter lauter verkleideten Lehrerinnen, Eltern und Kindern, das sei schon seltsam gewesen, sagt Svitlana Tereshhenko. „Aber es war vor allem sehr, sehr lustig. Ich habe mehr Menschen kennengelernt als in den vergangenen Monaten zusammen!“ Dass Weiberfastnacht mit all den Jecken auf den Straßen und in der Junkersdorfer Ildefons-Herwegen-Grundschule für die 42-jährige Mutter aus Kiew nicht zum Kulturschock wurde, lag auch daran, dass sie fünf Tage zuvor als wahrscheinlich erste kriegsgeflüchtete Ukrainerin eine Karnevalssitzung moderiert hatte. „Da habe ich mich in den Karneval verliebt“, sagt sie.

Mit Wolfgang Fey, Regimentspfarrer des Kölner Husaren-Korps, stand Svitlana Tereshhenko auf der Bühne der Wolkenburg, um in ukrainische Tracht gehüllt die Prunksitzung zu moderieren – auf Ukrainisch, Kölsch und Hochdeutsch. Im Publikum: 100 Frauen aus der Ukraine, viele von ihnen das erste Mal seit der Flucht vor dem Krieg einen Abend lang ohne ihre Kinder unterwegs. „In der Ukraine gibt es nichts Ähnliches. Die Kinder verkleiden sich an Silvester, aber ein Fest wie Karneval kennen wir nicht“, sagt Tereshhenko. „Es war eine wunderbare Erfahrung.“

Pfarrer Fey, Tereshhenko nennt ihn „Dr. Fey“, habe ihr vorher einige Seiten zur Geschichte des Kölner Karnevals zu lesen gegeben. Sie habe gelernt, dass der Karneval einst auch als Revolte gegen die französischen Revolutionstruppen und später die preußischen Besatzer diente. „Aber von der Geschichte war wenig zu merken“, sagt Tereshhenko. „Meine Freundinnen und ich haben schnell gemerkt, dass es darum geht, zusammen zu feiern – und die Sorgen für ein paar Stunden zu vergessen. Und das ist perfekt gelungen.“ Mit den Frauen, die sie am nächsten Tag im Deutschkurs wiedersah, „haben wir nach der Sitzung darüber diskutiert, wie wir uns an Weiberfastnacht verkleiden“.

Am Tag der russischen Invasion aus Kiew geflohen

Svitlana Tereshhenko ist mit ihrer Tochter Katia am Tag der russischen Invasion am 24. Februar 2022 aus Kiew geflüchtet. „Katias Vater ist zurückgeblieben, genauso unser Hund und alles, was wir hatten. Wir hatten Todesangst. Wer in Frieden aufgewachsen ist und nie die Detonationen von Bomben und Raketen gehört hat, kann sich nicht vorstellen, was das bedeutet. Es erschüttert dein Vertrauen ins Leben“, sagt sie.

Die ersten vier Wochen in Köln seien schwer gewesen. Jeden Tag gab es neue Schreckensnachrichten aus der Ukraine, ein kilometerlanger russischer Militärkorso stand vor Kiew, die Stadt drohte gestürmt zu werden. „Und wir konnten kein Deutsch und wussten nicht, was wird.“

Das wisse sie bis heute nicht. Immerhin aber sei sie in Köln ein bisschen angekommen. Geholfen hat dabei auch ihr Arbeitgeber – der internationale Immobilienkonzern Sotheby’s Real Estate, für den Svitlana Tereshhenko in Kiew arbeitete: Mitarbeitende des Kölner Büros organisierten eine Wohnung für sie und ihre Tochter am Stüttgerhofweg. „Mitten unter ganz vielen Studenten-Wohngemeinschaften.“ Schnell konnte sie wieder arbeiten. Über Sotheby’s kam auch der Kontakt zu Wolfgang Fey zustande. „Das war ein großes Glück.“

Die Idee, 100 Menschen aus der Ukraine zur Prunksitzung einzuladen, sei spontan entstanden, sagt der Regimentspfarrer, der lange als Militärdekan gearbeitet hat. „Es war aber natürlich naheliegend: Der Karneval ist eine Sprache, die keine Grenzen kennt. Der Karneval macht Mut gegen die dunklen Mächte und gegen die Ängste, die einen umtreiben. Karneval kann helfen gegen Sorgen und Depressionen.“ Der Kölner Husaren-Korps lebt sein Vereinsmotto „Husare stonn zosamme, Husare fiere zosamme, Husare blieve zosamme“ auch mit seiner traditionellen „Sitzung för ärm Lück“, zu der seit vielen Jahren Menschen eingeladen werden, die am Rande der Gesellschaft stehen.

Karneval ist Gemeinschaft, Loslassen, Feiern

Karneval, das habe sie gelernt, „bedeutet Gemeinschaft, loslassen, einfach feiern“, sagt  Svitlana Tereshhenko. Stand, Klasse, Geschlecht, Alter, Beruf, Herkunft, alles egal. „Und in der Schule gibt es morgens Bier und Sekt.“ Am Samstag nahm Pfarrer Fey sie und die neunjährige Katia mit zu einer Sitzung, dieses Mal durfte Katia, die in Windeseile Deutsch gelernt hat, als Engel verkleidet auf der Bühne stehen und mitmoderieren. Montag steht der Rosenmontagszug an, Dienstag der Veedelszug in Junkersdorf.

Katerina und Michail Kovalenko aus Charkiw stehen am Samstagabend im gesteckt vollen Deutzer Brauhaus und schunkeln zu den Hits von Brings und Bläck Fööss, den Höhnern, Kasalla und Querbeat. In ihren Blicken liegt ein bisschen Verwirrung, Unglaube über die exzessive Ausgelassenheit. Natürlich sei die Situation paradox, sagt Katerina Kovalenko draußen vor dem Lokal. Ihre Eltern seien in Charkiw, täglich gebe es dort Fliegeralarm. Ihre Gedanken seien ständig in der Ukraine.  „Trotzdem ist es auch so, dass wir vorläufig hier leben und hier sehr herzlich empfangen worden sind. Jetzt wollen wir auch die Kultur hier kennenlernen, das gehört zur Integration dazu“.

Die Kovalenkos sind mit ihren Kindern Vasilia (7) und Grigor (5) Anfang April aus Charkiw geflüchtet. „Da hat unser Haus nach einem Raketeneinschlag gezittert und wir wussten, wir müssen weg, um sicher zu sein“, sagt die 32-Jährige, die in der zweitgrößten Stadt der Ukraine eine eigene Konditorei hat. In Köln lebte die Familie vier Monate in einer Notunterkunft am Hardtgenbuscher Kirchweg – eine schwere Zeit, „weil es nur Pappwände gab und wir keine Privatsphäre hatten“.

Am Anfang haben wir gar nicht verstanden, wie Menschen so hilfsbereit sein können, ohne etwas als Gegenleistung zu wollen
Katerina Kovalenko aus Charkiw

Inzwischen hat die Familie eine Wohnung in Höhenhaus, ein Kölner Nachbar hat sie ein paar Tage, nachdem sie eingezogen waren, zu seinem Geburtstag eingeladen. „Am Anfang haben wir gar nicht verstanden, wie so viele Menschen so hilfsbereit sein können, ohne etwas als Gegenleistung zu wollen“, sagt Katerina Kovalenko. Ihr Mann reiste mit aus, weil er pflegebedürftige Eltern hat, die ebenfalls nach Köln flüchteten – sonst wäre er in der Ukraine geblieben, um sein Land zu verteidigen.

„Leev Marie“ lässt ein ukrainisches Paar ratlos zurück

Als die Jecken im Brauhaus zum Paveier-Hit „Leev Marie“ grölen, guckt das ukrainische Paar ein bisschen skeptisch. In den Kneipenkarneval mitgeschleppt hat sie Olja Ruppel, die ehrenamtlich an der Empfangsstation am Hauptbahnhof arbeitete, als die Familie in Köln ankam. Inzwischen sind die Frauen Freundinnen, Ruppel, die seit 20 Jahren in Köln lebt, hat einen Frauen-Club gegründet, der sich einmal im Monat trifft. „Nur wer sich öffnet und das Leben hier kennenlernt, hat die Chance, hier anzukommen“, sagt sie. Die Kovalenkos machen das, „leider gibt es auch viele Frauen und Familien, die sich zu Hause einschließen, die traurig sind und um die ich mir echte Sorgen mache“.

Olja Ruppel ist mit einem Deutschen verheiratet, der mit Karneval fremdelt. „Ich bin die einzige aus der Familie, die den Fastelovend liebt“, sagt sie. Man muss nicht mit dem Karneval aufgewachsen sein, um ihn zu lieben. Man muss kein Kölsch können, nicht die Lieder mitgrölen. Und es muss im eigenen Leben und in der Welt bestimmt nicht alles in Ordnung sein, um im Karneval ein bisschen Trost und Glück zu finden.

„Für mich“, sagt Svitlana Tereshhenko, „war es eigentlich das erste Mal seit der Flucht, dass ich den Krieg für ein paar Stunden ganz ausblenden konnte.“ Katerina Kovalenko ist noch nicht ganz so euphorisch: „Ich finde es interessant“, sagt sie im Brauhaus höflich, und nippt an einer Cola. „Aber meine Kinder lieben den Karneval sehr.“

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