Klage gegen NRWWurde der Schüler fälschlich als geistig behindert eingestuft?

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Nenad Mihailovic und seine Anwältin Anneliese Quack

Nenad Mihailovic und seine Anwältin Anneliese Quack

Köln – Wenn man Nenad Mihailovic reden hört, kann man nicht glauben, dass er jahrelang als geistig behindert eingestuft war. Zurzeit arbeitet der 20-Jährige aus Holweide auf dem Berufskolleg Deutzer Freiheit auf seinen Realschulabschluss hin. Daran, dass dies so spät geschieht, gibt er den Verantwortlichen des Schulwesens schuld. Deshalb hat er das Land NRW, vertreten durch die Bezirksregierung Köln, auf Schadenersatz in Höhe von rund 30 000 Euro für entgangene Ausbildungs- und Arbeitsvergütungen verklagt.

Juristische Beurteilung schwierig

Am Dienstag war erster Verhandlungstermin vor der 5. Zivilkammer des Kölner Landgerichts. Bei aller Sympathie, die der Vorsitzende Reinhold Becker für das Anliegen erkennen ließ, machte er deutlich, dass es für eine juristische Beurteilung des Falls abgesehen von grundsätzlichen Bedenken noch an Nachweisen fehle. Die Anwältin des Klägers, Anneliese Quack, muss nun weitere Unterlagen dazu beibringen, wie sich ihr Mandant von 2008 bis 2014 auf der Förderschule für geistige Entwicklung in Poll entwickelt hat. Ein neuer Termin wird von Amts wegen noch bestimmt.

Nenad Mihailovic stammt aus einer serbischen Roma-Familie. Als Kind wurde er nach einem Test in einer bayerischen Grundschule, dem er sprachlich nicht gewachsen war, als geistig behindert eingestuft. Er wirkte wohl zurückgeblieben, weil seine Familie ihn nicht ausreichend unterstützen konnte. So wurde er auf eine Förderschule für geistige Entwicklung, eine so genannte GE-Schule, geschickt. Die Lehrer kamen mit ihm nicht zurecht. Bei einem Intelligenztest erzielte er einen IQ von lediglich 59; der Durchschnitt liegt bei 100. Nach der Rückkehr in Nenads Geburtsstadt Köln im Jahr 2008 schrieb die Förderschule in Poll den sonderpädagogischen Bedarf, so lautet der Vorwurf, ohne Überprüfung immer weiter fort. Die Einrichtung dementiert das.

Häufig den Unterricht geschwänzt

Anders als auf Schulen für Lernbehinderte ist es auf GE-Schulen nicht möglich, einen ordentlichen Abschluss zu erwerben. Nach seinen Angaben bettelte Nenad Mihailovic darum, auf eine andere Schule gehen zu dürfen – vergeblich. Im stillen Protest gegen die permanente Unterforderung blieb er immer öfter dem Unterricht fern. Die Wende bahnte sich an, als er den inzwischen verstorbenen Kurt Holl vom Verein Rom e.V. kennen lernte. Der vermittelte ihn an Eva-Maria Thoms von der Initiative Mittendrin, die sich für die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung stark macht. Auch ihr gelang es zunächst nicht, den damals 17-Jährigen in einer anderen Bildungseinrichtung unterzubringen. Die GE-Schule in Poll und die Bezirksregierung wiesen darauf hin, Nenad habe zu oft gefehlt; ein Verstoß gegen das Schulrecht liege nicht vor. Im Auftrag von Anwältin Quack testete eine Psychologin die geistigen Fähigkeiten des Jugendlichen und kam auf einen IQ von 95. Mit einem Kniff schaffte es der Verein Mittendrin, dass Nenad am Berufskolleg Deutzer Freiheit hospitieren konnte. Und er blieb. 2016 Jahr hat er mit einem Notendurchschnitt von 1,6 als Bester seines Jahrgangs den Hauptschulabschluss erworben.

Was wäre gewesen, wenn Nenad Mihailovic früh die Schulform gewechselt hätte? Hätte er heute schon eine Ausbildung hinter sich? Das sei„schwierig zu beurteilen“, sagte Richter Becker in einer ersten Einschätzung, der kausale Zusammenhang lasse sich nicht ohne Weiteres herstellen. Vielleicht habe der Kläger sich aus anderen Gründen wie der Veränderung der „familiären Situation“ mittlerweile gefangen. „Ich bin selber zweifacher Großvater“, wurde Becker persönlich, „und ich weiß: Kinder können eine sehr unterschiedliche Entwicklung nehmen.“ Der Vortrag der Klägerseite sei „leider mehr emotional als juristisch fundiert“. Bisher reiche er jedenfalls nicht aus, um eine „Amtspflichtverletzung“ festzustellen. Andererseits seien die Beurteilungen der Schule, soweit sie der Kammer vorliegen, „in sich nicht schlüssig“: Da werde dem Schüler bescheinigt, er habe „alles Mögliche gelernt“, um dann zu dem Schluss zu kommen, er sei weiter unfähig, „sein Leben ohne Hilfe zu meistern“. Zu diesem Widerspruch müsse die Bezirksregierung, sobald alle Zeugnisse und Förderpläne zu den Akten genommen sind, Stellung beziehen. Rechtsanwältin Quack blieb beim Grundsätzlichen: „Mein Mandant hatte nie eine geistige Behinderung. Der Förderschwerpunkt war immer falsch.“ Es hätten neue Tests gemacht werden müssen.

Nenad Mihailovic sagte nach dem Gerichtstermin am Dienstag, er habe in erster Linie nicht für sich selber geklagt: „Ich mache das für die anderen“, für all diejenigen, die in eine für sie falsche Schule gesteckt würden.

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