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„Schmerzen im ganzen Körper“Ein kleiner Fehler kostete einen Kölner fast sein Leben

Lesezeit 5 Minuten
Theo Müller

Theo Müller auf seiner Suzuki vor dem schweren Unfall

KölnAus einer Pressemitteilung der Polizei vom 27. Oktober 2020: „Ein Motorradfahrer (23) hat am Dienstagmorgen bei einem Alleinunfall im Autobahnkreuz Köln West lebensgefährliche Verletzungen erlitten. Laut Zeugenaussagen soll der Suzuki-Fahrer auf dem Zubringer von der A4 auf die A1 Richtung Euskirchen aus ungeklärter Ursache gestürzt und gegen die Schutzplanke gerutscht sein. Rettungskräfte brachten den 23-jährigen Kölner mit einem Hubschrauber in eine Klinik.“

Zigmal schon ist er diese Kurve gefahren, jeden Morgen auf dem Weg aus der Südstadt zu seiner Ausbildungsstelle in Marsdorf. Seine weiße Suzuki GSR 750, 106 PS, fährt Theo Müller seit zwei Jahren. Fast 30.000 Kilometer hat der 23-Jährige auf ihr absolviert, darunter viele Touren in die Eifel oder ins Bergische. „Er ist ein umsichtiger Fahrer, vernünftig, nicht leichtsinnig“, sagt seine Mutter.

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Aber an diesem Morgen ist etwas anders als sonst. Kleinigkeiten nur, aber sie reichen aus, um das Leben eines jungen Mannes für immer zu verändern. Heute, zwei Monate später, lebe er bewusster als früher, sagt Theo Müller. Intensiver.

Kurve nicht optimal angefahren

Der 27. Oktober ist der erste kalte Tag in diesem Herbst, die Reifen der Suzuki sind noch nicht richtig warmgefahren, es ist etwas mehr Verkehr als üblich. Müller legt sich in eine leichte Linkskurve, er fährt sie nicht optimal an, wie er heute sagt, überholt ein Auto, will rechts einscheren, als das Hinterrad wegrutscht.

Müller stürzt, schlittert in seiner Schutzkleidung über die Fahrbahn, sein Motorrad dreht sich um die eigene Achse und der Scheinwerfer leuchtet ihm für einen kurzen Moment frontal ins Gesicht. „Das war ein krasser Moment“, erinnert sich Theo Müller. „Mir schoss durch den Kopf, dass ich gerade das Vertrauen ziemlich vieler Menschen enttäusche, vor allem das meiner Mutter.“

Müller rutscht gegen einen Pfosten der Schutzplanke, mit dem Bein voran. Er dreht sich, kracht mit dem Rücken gegen einen zweiten Pfosten und bleibt auf dem Bauch liegen. „Ich hatte Todesschmerzen im ganzen Körper, ich konnte kaum atmen.“

Unterschenkel musste amputiert werden

Die Lunge ist gequetscht, die Leber gerissen, Hüfte und Becken sind zertrümmert. Das linke Wadenbein ist gebrochen, ebenso der rechte Oberschenkel, Lendenwirbel, Steißbein und zwei Rippen. Der Kopf hat unter dem Helm nur eine Beule abbekommen. Aber das Schlimmste ist: Der rechte Unterschenkel hängt nur noch an der Achillessehne. Eineinhalb Wochen später wird der Unterschenkel amputiert.

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Die Verletzungen am Unterschenkel waren so schwer, dass er amputiert werden musste.

Müller verliert viel Blut auf dem Seitenstreifen der Autobahn, sein Kreislauf sackt ab. Er schwebt in Lebensgefahr. Eine Kinderärztin, die zufällig in einem Auto hinter ihm war, leistet erste Hilfe. Sein Arbeitskollege Marvin, der in einem Auto vor ihm fuhr, alarmiert die 112. Das vorerst Letzte, woran Theo Müller sich erinnert, ist, wie ein Notfallsanitäter zu ihm sagt: „Ich gebe Ihnen jetzt etwas gegen die Schmerzen.“ Dann schläft Müller ein. Heute sagt er: „Der Sanitäter hat mir das Leben gerettet.“

Siebenstündige Operation, sieben Chirurgen

Der Sanitäter heißt Dennis Müller, er arbeitet seit 15 Jahren im Rettungsdienst. „Als ich Theo da liegen sah unter der Leitplanke, wusste ich sofort: Das ist etwas Größeres“, erzählt der 33-Jährige am Telefon. Dass der Motorradfahrer abgesehen von einer Unterschenkelprothese wohl keine bleibenden Schäden davon tragen wird, wie man inzwischen weiß, habe er an jenem Morgen auf der Autobahn nicht für möglich gehalten, sagt er. Theo Müller hat seinen Retter kürzlich angerufen und sich bedankt. Der hat sich gefreut. „So ein Feedback kriegt man ja leider auch nur selten.“

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Die komplizierte Operation in der Kölner Uniklinik, an der sieben Chirurgen beteiligt sind, zieht sich bis abends, sie dauert sieben Stunden. Erst zwei Monate später, Mitte Dezember, kann Theo Müller die Klinik wieder verlassen. Vor ihm liegt noch ein langer Weg. Im Januar geht es in die Reha. „Aber ich habe es gut getroffen“, sagt er. Mit einer Prothese könne man heutzutage sehr gut leben. „Es fehlte nicht viel, dann hätte meine Familie mich Weihnachten an meinem Grab besucht.“

Opferschützerin der Polizei betreut Familie

Sie habe selten einen Menschen erlebt, der nach einem solch schweren Unfall derart realistisch ist und optimistisch in die Zukunft blickt, der nicht hadere und sich vom ersten Tag an mit seinem neuen Leben abgefunden habe, sagt Alexandra Schäfer. Die Oberkommissarin arbeitet beim Unfallopferschutz der Polizei und hat Müller und seine Familie in der ersten Zeit betreut. Hat sich immer wieder erkundigt, wie es Theo geht, hat ihm und den Eltern zugehört, Mut gemacht und psychologische Unterstützung vermittelt. „Das hat uns sehr geholfen“, sagt Ulrike Hager, die Mutter, heute.

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Große Angst habe er vor der Amputation gehabt, gibt Müller zu. Er hatte der Operation aber nach reiflicher Überlegung zugestimmt. Die Verletzungen am Bein waren zu schwer. Kurz bevor es in den OP ging, hat er sein Bein ein letztes Mal gefilmt – für den Fall, dass er später doch einmal Zweifel bekommen sollte. Auf dem Video spricht er sich selbst Mut zu: „Es muss so sein. Das ist die beste Entscheidung.“

Rettungskette hat perfekt funktioniert

Dankbar sind er und seine Familie allen, die geholfen haben. Die Rettungskette habe perfekt funktioniert. Es werde so oft geschimpft über das Gesundheitssystem, sagt Ulrike Hager, aber sie sei „schwer beeindruckt, was die Medizin und einzelne Personen leisten können“.

Die völlig zerstörte Suzuki liegt seit dem Unfalltag irgendwo in der Firma von Theos Eltern, abgedeckt unter einer Plane. Er habe es noch nicht fertiggebracht, sie sich anzusehen, sagt der 23-Jährige. Ob er sich jemals wieder auf ein Motorrad setzen wird, weiß er noch nicht, sagt Theo Müller. Aber vorstellen könne er sich das schon.