Kinder in Köln verunglücktAcht Schulweg-Unfälle in drei Wochen – ähnliche Ursachen

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Polizisten sichern Spuren am Unfallort.

  • Zuletzt hat die Polizei in Köln eine Häufung von Unfällen mit jungen Verkehrsteilnehmern beobachtet.
  • Acht Kinder sind seit Wiederbeginn des Schulbetriebs auf den Straßen verunglückt. Unfallschwerpunkte gibt es kaum, aber immer wieder die gleichen Ursachen.

Köln – Der zwölf Jahre alte Junge hatte keine Chance auszuweichen: Am vorigen Donnerstagnachmittag radelte der Schüler auf dem Klinikgelände in Merheim mit seinem Mountainbike in einen Wendehammer, als ein dunkles Auto rechts von ihm plötzlich aus einer Parktasche zurücksetzte. So schilderte es das Kind später der Polizei. Der Zwölfjährige stürzte über eine regennasse Bordsteinkante und schlug mit dem Kopf aus dem Asphalt auf. Der Autofahrer fuhr ohne anzuhalten an ihm vorbei. Nach ihm fahndet jetzt die Polizei. Ein Zeuge brachte den Jungen in die Klinik.

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Es war schon der achte Unfall in den vergangenen knapp drei Wochen in Köln, bei dem ein Kind verletzt worden ist – fast viermal so viele wie üblich in diesem Zeitraum, eine beunruhigend starke Häufung. Sieben der Opfer unter 15 Jahren wurden laut Polizei schwer verwundet und mussten mindestens eine Nacht im Krankenhaus verbringen, lediglich ein 15-Jähriger kam mit leichten Verletzungen davon.

Keine Unfallschwerpunkte

Beim genaueren Blick auf die einzelnen Unfälle lassen sich keine Zusammenhänge oder Schwerpunkte feststellen, weder was die Unfallorte noch was die Ursachen betrifft. Nur eines fällt auf: Insoweit man Kindern als Verkehrsteilnehmern überhaupt eine Form von Schuld an ihrem Fehlverhalten zusprechen kann, setzten die jungen Opfer jedenfalls auf den ersten Blick und nach Angaben der Polizei in mindestens fünf der acht Fälle mutmaßlich selbst die Ursachen für den Unfall.

In Ehrenfeld und in Neuehrenfeld traten eine 14-Jährige und eine 13-Jährige laut Polizei „plötzlich“ zwischen geparkten Autos auf die Straße und wurden von Autofahrern angefahren. In Stammheim wollte eine Radfahrerin (13) nach links abbiegen und stieß mit einem Auto zusammen, dessen Fahrerin das Mädchen gerade überholen wollte. In Pesch griffen sich zwei Schüler laut Polizei „zum Spaß“ gegenseitig in die Fahrradlenker, wodurch der eine (15) ins Schwanken geriet und mit einem entgegenkommenden Radfahrer (29) zusammenstieß. Und in Mülheim lief ein Elfjähriger morgens auf dem Weg zur Schule über eine Rot zeigende Fußgängerampel – er wurde von einem Autofahrer (57) angefahren und schwer verletzt.

Immer wieder dieselben Ursachen

Diese ungewöhnliche Häufung in den vergangenen Wochen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass von Jahr zu Jahr immer weniger Kinder auf deutschen Straßen verunglücken. Waren es 1978 noch 72.000 Opfer unter 15 Jahren, so lag diese Zahl im Vorjahr bei unter 30.000. Eines aber hat sich in all der Zeit nicht wesentlich geändert: Wenn Kinder verunglücken, dann immer wieder aus denselben Ursachen.

Die Unfallkasse NRW regt daher in ihrem neuesten Report „Kinder unterwegs im Straßenverkehr“ ein ganzes Maßnahmenbündel an, um die Unfallzahlen weiter zu senken. So müssten Verkehrsraum und -regelung anders gestaltet werden, aber auch die Verkehrsüberwachung durch Polizei und Kommunen verschärft und die Verkehrserziehung optimiert werden.

Die häufigsten Ursachen bei Unfällen mit Kindern als Fußgänger seien das plötzliche Überqueren der Fahrbahn, ohne auf den Verkehr zu achten (47 Prozent) und das plötzliche Hervortreten hinter Sichthindernissen (25 Prozent), meldet das Statistische Bundesamt. Das häufigste Fehlverhalten junger Radfahrer seien die falsche Straßenbenutzung (23 Prozent), Fehler beim Abbiegen, Wenden, Ein- und Anfahren (22 Prozent) sowie Vorfahrtsfehler (15 Prozent).

Fragt man Kinder selbst nach den größten Gefahren im Verkehr, nennen sie dem Report der Unfallkasse zufolge „schnell fahrende Autofahrer“, den dichten Autoverkehr in der Stadt, unvorsichtig abbiegende Autofahrer, Sichthindernisse durch geparkte Autos auf Geh- und Radwegen, zu kurze Grünphasen bei Fußgängerampeln sowie Autofahrer, die Zebrastreifen ignorierten. 

19 Meter für eine Vollbremsung bei Tempo 40

Gunda Wienke, die für die Linke als sachkundige Einwohnerin im Verkehrsausschuss des Kölner Stadtrates sitzt, hat selbst zwei Kinder. „Die fahren viel mit dem Fahrrad. Ich schwitze manchmal Blut und Wasser, wenn sie alleine unterwegs sind.“ In einer Aktuellen Stunde des Ausschusses zu Rasern vorige Woche ergriff Wienke das Wort mit einem radikalen Vorschlag: Tempo 30 in der ganzen Stadt und Tempo 20 in der Innenstadt, „wie in Wien und Brüssel“. Warum nicht einen Versuch auch in Köln starten, sagt die Politikerin. „Man könnte das ja auch zeitlich begrenzen. Aber wenn man es tatsächlich ernst meint mit der Verkehrswende, würde ich mir wünschen, dass Köln hier Vorreiter wird.“ Aus der Unfallforschung berichtet die Prüfgesellschaft Dekra, dass ein Auto bei Tempo 30 knapp 13 Meter für eine Vollbremsung braucht. Schon bei Tempo 40 seien es mehr als 19 Meter.

Abstände und Geschwindigkeiten einschätzen und vorausschauend handeln seien Fähigkeiten, die Kinder erst mit frühestens zehn Jahren allmählich beherrschten, sagen Forscher. Oft handelten sie spontan und unüberlegt und nach der Maßgabe: Was ich nicht sehen kann, existiert auch nicht – mit der Folge, dass sie zum Beispiel zwischen Hindernissen auf die Straße liefen, weil sei das nahende Auto nicht bemerkten.

Die Unfallkasse NRW empfiehlt in ihrer Untersuchung, Parkplätze vor allem in innerstädtischen Gebieten in Kreuzungsbereichen sowie an Haltestellen und Zebrastreifen zu entfernen und den Parkraum in Garagen und Parkhäuser zu verlagern. „Das wäre ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Sichtbarkeit von Kindern“, schreiben die Autoren.

Die Unfallorte

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1: 17. August, Melatengürtel/ Weinsbergstraße, 12.15 Uhr: Eine 14-Jährige tritt zwischen geparkten Autos auf die Straße und wird von einem Taxifahrer angefahren.

2: 20. August, Stammheimer Ring, 13.35 Uhr: Eine Autofahrerin will eine 13-jährige Radfahrerin überholen, die laut Polizei unvermittelt nach links abbiegt und angefahren wird.

3: 20. August, Alte Wipperfürther Straße, 8 Uhr: Eine zwölfjährige Radfahrerin radelt vom Gehweg auf die Fahrbahn und wird von einer Autofahrerin angefahren.

4: 24. August, Ossendorfer Weg, nachmittags: Zwischen geparkten Autos läuft eine 13-Jährige auf die Fahrbahn und wird von einem 51-jährigen Autofahrer angefahren. Womöglich war das Mädchen abgelenkt: Unmittelbar vor dem Zusammenstoß habe es mit Freundinnen auf dem Gehweg herumgealbert, teilte die Polizei mit.

5: 27. August, Schulstraße, nachmittags: Ein achtjähriger Schüler überquert mit seinem Kickroller einen Fußgängerüberweg, als er Polizeiangaben zufolge vom Auto einer 66-Jährigen erfasst wird.

6: 27. August, Johannesstraße, 8 Uhr: Zwei Radfahrer (15) greifen sich laut Polizei „aus einem Spaß heraus“ gegenseitig in den Lenker. Einer prallt gegen einen dritten Radler.

7: 3. September, Bergisch Gladbacher Straße/Genovevastraße, 7.50 Uhr: Ein Autofahrer (57) fährt einen Elfjährigen an, der laut Zeugen die Kreuzung bei Rot überqueren wollte.

8: 3. September, Ostmerheimer Straße, 16.10 Uhr: Beim Ausscheren aus einer Parklücke fährt ein Autofahrer einen Zwölfjährigen auf seinem Rad an und flüchtet.

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