Ernüchterung bei InklusionKölner Gymnasien ziehen sich aus der Verantwortung

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Die Bilanz der von Ministerin Yvonne Gebauer angeschobenen Neuausrichtung fällt dürftig aus.

Köln – Die Vertretung der Kölner Eltern spricht von einer deutlichen Verschlechterung, die Schulen klagen über fehlendes Personal, und im Kölner Stadtrat bedauert man, dass sich sämtliche Kölner Gymnasien aus der Verantwortung gestohlen haben. Eine erste Zwischenbilanz für die von Landesschulministerin Yvonne Gebauer ausgerufene „Neuausrichtung der Inklusion“ fällt in der Praxis bescheiden aus. „Für die Verschlechterung kann die Ministerin zwar nichts“, sagt der Sprecher der Kölner Stadtschulpflegschaft Lutz Tempel. „Aber sie darf auch nicht so tun, als wenn es liefe. Es fehlt an allen Ecken und Enden.“

Schulpflegschaftvorsitzender Lutz Tempel

Schulpflegschaftsvorsitzender Lutz Tempel

Gebauer hatte im vergangenen Jahr mehr Qualität und „massive Investitionen“ versprochen. Nach der mageren Bilanz der Vorgängerregierung wollte es die Ministerin aus Köln besser machen. Während SPD und Grüne regierten, war es zwar gelungen, das Ziel einer flächendeckenden Inklusion mit der Förderung aller Kinder mit ihren Stärken und Schwächen zur Leitidee zu machen. Doch weil es in der Praxis an so vielen Stellen holperte und haperte, machte sich bei Eltern und Lehrern in den Regelschulen Ernüchterung breit. Es fehlte an den nötigen Rahmenbedingungen, an Personal und Räumen.

Kölner Gymnasien nutzen Vorlage zum Ausstieg

Mit Beginn des laufenden Schuljahres gelten nun die neuen Regeln. Für mehr Qualität wird auf das flächendeckende Angebot verzichtet. Nicht jeder muss alles machen – eine Vorlage, die Kölns Gymnasien zum Ausstieg nutzten. Sie wollen sich nur noch um Kinder kümmern, denen die Grundschule die Fähigkeit zum Abitur in Aussicht gestellt hat. Um aufwendigere Förderung sollen sich andere kümmern. Im Schulausschuss des Stadtrates wurde das einmal mehr diskutiert. Schließlich haben einige Schulen bei Erweiterungsbauten Räume bekommen, die extra für einen inklusiven Unterricht geplant wurden.

Zu den neuen Regeln gehört aber auch ein neuer Schlüssel für die Klassengrößen und ihre Versorgung mit Lehrern, wenn sie Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufnehmen. An Schulen, die das so genannte „Gemeinsame Lernen“ praktizieren, gilt seit diesem Schuljahr die neue „Inklusionsformel 25-3-1,5“. Das heißt: Für eine Klasse mit 25 Schülern, von denen drei einen besonderen Förderbedarf haben, werden anderthalb Lehrerstellen zugeordnet. Zum „normalen“ Lehrer kommt ein „halber“ Sonderpädagoge. Anders gerechnet: In einem vierzügigen Jahrgang mit 100 Kindern müssten zwei Sonderpädagogen das Lehrerkollegium ergänzen.

Mangel an Sonderpädagogen in Köln

In den meisten Kölner Schulen ist das nicht umgesetzt. Zum allgemeinen Lehrermangel kommt der Mangel an Sonderpädagogen, die an Regelschulen arbeiten wollen. Die Stärkung des Förderschulsystem – ein weiterer Baustein im Konzept der Landesregierung – führt dazu, dass die vorhandene Personal-Ressource weiterhin recht ungleich verteilt ist. Hinzu kommt das Problem, dass in Köln Schulplätze an Gesamtschulen fehlen. Die Stadt hat angeordnet, dass mehr als 25 Schüler in einer Klasse aufgenommen werden müssen.

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Die neue Inklusionsformel gilt zunächst nur für die neuen fünften Klassen. Nach Angaben der Bezirksregierung sind zur Zeit in Köln 50 Stellen für Sonderpädagogen nicht besetzt. Das entspräche knapp 17 Prozent aller Stellen. Umfragen in einigen Kölner Schulen zeigen, dass Theorie und Praxis noch weiter auseinanderliegen. „Wenn alle Stellen besetzt wären, hätten wir tatsächlich eine Verbesserung im Vergleich zu früher. Aber die Leute sind nicht da“, sagt der Leiter einer Schule, in der ein Drittel der Stellen vakant ist. Er bittet um Anonymität. Das Verhältnis zur zuständigen Bezirksregierung sei zur Zeit sehr angespannt.

Inklusionsformel verdeutlicht Sonderpädagogen-Mangel

Noch deutlicher wird der Mangel, würde man die neue Inklusionsformel auf alle Jahrgänge anwenden: In der Gesamtschule Rodenkirchen zum Beispiel werden 115 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf unterrichtet. Würde man für alle die neue Inklusionsformel gelten lassen, müssten an der Schule fast 40 Sonderpädagogen arbeiten. Tatsächlich hat die Schule nur neuneinhalb.

Es gibt auch Schulen, in denen die Sonderpädagogen-Stellen zumindest für den fünften Jahrgang besetzt werden konnten. Doch auch hier gibt es Klagen. So habe es nach der Verteilung von jeweils drei Förderkindern pro Klasse nachträgliche Zuweisungen gegeben. Zusätzliches Personal gebe es dafür nicht, auch nicht, wenn bei weiteren Kindern im Laufe ihrer Schullaufbahn ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt werde. Porz hat sich verabschiedet

Gewerkschaft GEW in Köln sieht weitere Schulprobleme

Die Gewerkschaft GEW in Köln sieht weitere Probleme: So sei unklar, wie die eingeforderten Qualitätskriterien für ein pädagogisches Konzept der Schulen aussehen sollen. Es fehle an einer ausreichenden Lehrer-Fortbildung und an Räumen in oft maroden Schulen. Unklar sei auch, wie es mit den vielen Schülern weitergehe, für die die Inklusionsformel nicht gelte, weil sie nicht mehr in die fünfte Klasse gehen oder in Schulen lernen, die sich von einzelnen Förderschwerpunkten oder ganz von der Inklusion verabschiedet haben.

Besonders Problematisch ist die Situation offenbar im Bereich der Integration von Kindern mit geistigen Behinderungen. Nicht nur im ländlichen Bereich gibt es schon jetzt kein erreichbares Regelschulangebot mehr. Nach Angaben des Elternvereins „Mittendrin“ hat sich in Köln der komplette Stadtbezirk Porz von dem Thema verabschiedet. „Wir haben nicht die Hoffnung, dass die Inklusion weiter vorankommt“, sagt die „Mittendrin“-Vorsitzende Eva-Maria Thoms. Folgenschwerer als die ungelösten praktischen Probleme sind aus Sicht des Vereins, der für Inklusion streitet, dass sich die Stimmung für das Thema weiter verschlechtere. „Das politische Ziel, dass unsere Schulen sich zu inklusiven Schulen entwickeln und Kinder und Jugendliche mit Behinderung dort selbstverständlich dazugehören, wird in NRW nicht mehr breit getragen.“

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