„Jeder zweite Bürgerkontakt ist schwierig“Gewalt gegen Ordnungskräfte in Köln steigt

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Das Kölner Ordnungsamt im Einsatz. (Symbolbild)

Köln – Manchmal ist es kein Faustschlag oder Tritt, der einem den Boden unter den Füßen wegzieht. Sondern eine herablassende Geste und ein höhnischer Kommentar. „Hier“, raunzte der junge Mann auf dem Brüsseler Platz einen Mitarbeiter des Ordnungsdienstes an. Ließ ein Stück Papier zu Boden segeln und sagte: „Heben Sie das auf, das ist Ordnungsamt.“ Andere fragen: „Haben Sie keinen anderen Job bekommen? Haben Sie die Schule nicht abgeschlossen?“

Einsätze auf dem Brüsseler Platz sind für den städtischen Ordnungsdienst oft besonders unangenehm. Noch vor wenigen Jahren seien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dort mit Nervenzusammenbrüchen umgekippt, berichtet Ruth Flier, Psychologin bei der Stadt Köln und eine von sechs Beschäftigten im „Mitarbeitenden-Unterstützungs-Team“, kurz M.U.T. Ein Außendienstler habe ihr mal gesagt: „Ich war mit der Bundeswehr in Afghanistan, das war nicht so schlimm wie auf dem Brüsseler Platz.“ Inzwischen seien die Ordnungskräfte besser vorbereitet. Sie wissen, was sie erwartet, sagt Flier. Einen Zusammenbruch habe es länger nicht gegeben.

Köln: Ordnungskräfte trainieren Selbstverteidigung

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Anne Tischer betreut Mitarbeiter der Stadt nach traumatischen Ereignissen

Und dennoch: Nicht nur die Zahl der verbalen Attacken, auch die der körperlichen Angriffe auf die Einsatzkräfte von Ordnungs- und Verkehrsdienst in Köln steigt seit Jahren, Flier und ihr Team werden immer wichtiger. Seien vor Corona ungefähr 15 Prozent der Bürgerkontakte „schwierig“ gewesen, so sei es inzwischen jeder zweite, berichten Einsatzkräfte, die täglich auf der Straße unterwegs sind. „Auf der Straße steigen die Aggressionen“, sagt Ruth Flier, „die Außendienstkräfte kriegen das jeden Tag zu spüren.“ In Schulungen trainieren sie längst Techniken zur Selbstverteidigung. Gleichzeitig wachse die Erwartungshaltung der Bürger und der Politik an den Ordnungsdienst, die Aufgaben würden immer vielfältiger, berichtet Fliers Kollegin Anne Tischer.

Mit 60 Krankentagen pro Jahr sind die Fehlzeiten vor allem im Verkehrsdienst in Köln wie auch in anderen Städten besonders hoch – auch, weil die Zahl der Übergriffe steigt? Subjektiv könne man die Frage eindeutig mit „Ja“ beantworten, sagt Anne Tischer. Statistisch belegbar sei das aber nicht.

Einsatzkräfte klagen über psychische und körperliche Folgen

Mit ihrem Team versuchen Flier und Tischer, die psychischen Folgen der Attacken abzumildern. Innerhalb von 24 Stunden nach einem potenziell traumatischen Erlebnis bekommt jeder städtische Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin auf Wunsch einen Termin beim M.U.T. für ein so genanntes Entlastungsgespräch. Besonders häufig betroffen sind Beschäftigte des Ordnungs- und Verkehrsdienstes, aber auch anderer Dienststellen wie Grünflächenamt, Sozialamt, Wohnungsamt und Meldeämter. 19 Entlastungsgespräche haben Flier und ihr Team 2019 geführt, dieses Jahr waren es bis August bereits 35. Insgesamt 1000 Beschäftgite hat das Team im Vorjahr beraten. Manche Einsatzkräfte klagen über Herzrasen, andere über Atemnot und Schlafstörungen. Wieder andere berichten von Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Selbstvorwürfen oder Panikattacken.

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Psychologin Ruth Flier bekommt täglich mit, dass die Gewalt gegen Ordnungs- und Verkehrskräfte steigt.

Im Entlastungsgespräch versuchen Flier und Tischer, ihnen klar zu machen, dass nicht sie verrückt geworden sind, sondern die Situation nicht normal war – und erläutern ihnen, auf welche seelischen und körperlichen Folgen sie sich in den nächsten Stunden und Tagen noch gefasst machen müssen. Oberstes Ziel sei stets die Erhaltung oder Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, sagt Flier.

Das klappt nicht immer. Eine erfahrene Mitarbeiterin des Verkehrsdienstes verpasste einem Falschparker ein Knöllchen, der Mann ging aus sie los und zertrümmerte die Frontscheibe ihres Dienstwagens. Die Mitarbeiterin habe sich ohnmächtig gefühlt in diesem Moment, schildert Flier. Sie wurde zwar nicht körperlich verletzt, sei aber in den folgenden Wochen in einen „psychischen Strudel“ geraten, in dem sie beinahe untergegangen sei. Ihr gesamtes Umfeld, das es eigentlich gut meinte, versuchte, sie aufzumuntern: „Ist doch nichts passiert.“ Aber das machte es nur schlimmer. „Die Kollegin dachte irgendwann, sie spinne“, sagt Flier. Am Ende sei sie suizidal gewesen, 14 Monate fiel sie aus. Heute arbeitet sie in einem anderen Bereich der Stadtverwaltung.

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Bei einer Partyauflösung unter der Zoobrücke biss eine wildgewordene Frau einem Mitarbeiter des Ordnungsamtes in den Unterarm und riss ihm ein Stück Fleisch heraus. Zwei Mitarbeitern der Verkehrsüberwachung drohte ein Temposünder, er komme gleich mit seinen Freunden und einem Baseballschläger zurück, sie sollten sich schnell vom Acker machen. „Es ist kaum zu glauben, mit welcher Selbstverständlichkeit manche Menschen meinen, ihre Unzufriedenheit an anderen Menschen auslassen zu können“, sagt Psychologin Flier. Die Täter kämen aus allen Gesellschaftsschichten. In Ehrenfeld etwa schlug ein Mann eine Mitarbeiterin des Verkehrsdienstes mit der Faust nieder – sie hatte seinen Wagen abschleppen lassen, der unberechtigt auf einem Behindertenparkplatz stand. Der Angreifer ist ein Rechtsanwalt.

Mitarbeiter werden zu „Ersthelfern“ für Kollegen fortgebildet

Die Stadt empfiehlt ihren Mitarbeitern, in jedem Fall eine Unfallanzeige zu schreiben – egal ob der Übergriff auf den Körper oder die Psyche zielte. Die Kosten für eine Therapie übernimmt die Unfallversicherung. Den meisten helfe bereits das Entlastungsgespräch, sagt Flier. Traumata seien gut behandelbar – vor allem wenn die Hilfe schnell erfolge. „Wir konzentrieren uns in der ersten Zeit darauf, die Kolleginnen und Kollegen zu stabilisieren, damit keine Folgeschäden entstehen“, sagt Anne Tischer. In besonders schweren Fällen vermittelt das MU-Team Betroffene an die Psychosomatische Abteilung der Uniklinik. Zurzeit werden Beschäftigte aus verschiedenen Bereichen der Verwaltung zu einer Art Ersthelfern fortgebildet. Sie sollen früh erkennen, wenn ein Kollege oder eine Kollegin Hilfe braucht und bei Bedarf das M.U.T. informieren.

Trotz der hohen Belastung machten die meisten Ordnungs- und Verkehrsdienstler ihren Job gerne, stellt Ruth Flier immer wieder fest – vor allem aus zwei Gründen. Der erste: „Sie sagen mir: Wenn ich abends nach Hause komme, habe ich alles erledigt, anders als ein Sachbearbeiter, bei dem sich die unerledigten Vorgänge stapeln.“ Und der zweite: „Dadurch, dass ich meine Tätigkeit ausgeführt habe, war die Welt heute vielleicht ein bisschen geordneter und sicherer.“

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