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Kölner Gericht feiert 200-jähriges JubiläumEin „Schloss“ mit preußischen Wurzeln

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Treppenhaus des Gerichtsgebäudes

Köln – Der ehemalige Boxweltmeister Felix Sturm muss wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung in Untersuchungshaft bleiben. Dagegen darf die U-Haft des mutmaßlichen Geiselnehmers vom Kölner Hauptbahnhof, dessen Tat im Oktober 2018 für Aufsehen sorgte, unterbrochen werden, damit er in einer Klinik behandelt werden kann. Eine TV-Programmzeitschrift hat einem Fernsehmoderator 20000 Euro zu zahlen, weil sie unerlaubt sein Bild verwendet hatte. Und Volkswagen muss dem Käufer eines gebrauchten Wagens, der mit einer manipulativen Software ausgestattet war, den größten Teil des Kaufpreises erstatten. Das sind einige der Beschlüsse des Oberlandesgerichts (OLG) Köln in diesem Jahr, die größere Aufmerksamkeit gefunden haben. Am heutigen Freitag richtet sich das öffentliche Interesse aus besonderem Anlass auf das Gericht: Es feiert sein 200 jähriges Bestehen. NRW-Justizminister Peter Biesenbach spricht ein Grußwort; den Festvortrag hält Angelika Nußberger, Vizepräsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Hervorgegangen ist das OLG aus dem „Rheinischen Appellationsgerichtshof zu Cöln“, den der preußische König  Friedrich  Wilhelm III. durch Kabinettsorder vom 21. Juni 1819 gründete. Damit verzichtete er darauf, der Rheinprovinz, die nach dem Sieg über Napoleon von Frankreich zu Preußen gekommen war, das Allgemeine Preußische Landrecht  überzustülpen. Der Appellationsgerichtshof, das höchste Gericht im Rheinland, entschied über Berufungen gegen die Zivilurteile der Land- und Handelsgerichte seines Bezirks  und  über die Eröffnung von Schwurgerichtsverfahren, in denen Geschworene über die Schuldfrage und Berufsrichter über das Strafmaß entschieden. Über ihm stand der Rheinische Revisions- und Kassationshof in Berlin, der  die Aufgaben erfüllte, die unter napoleonischer Herrschaft der  Kaiserliche Kassationshof in Paris wahrgenommen hatte.

„Das Ganze war eine komplette Projektion der französischen Rechtspflege auf die rheinpreußische“, schreibt Dieter Laum, von 1984 bis 1996 Präsident des OLG, in der Festschrift zum 175-jährigen Bestehen. Basis der Rechtsordnung waren die fünf Gesetzbücher Napoleons, darunter als bekanntestes der Code civil. Festgeschrieben waren unter anderem  die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, die Unabhängigkeit der Richterschaft und  die Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Verhandlungen. „Das alles war  in Altpreußen trotz großer Fortschritte noch nicht so entwickelt“, so Laum.

Das Gebäude am Reichenspergerplatz ist seit 1911 Sitz des Gerichts.

Jenseits der Rheinprovinz war die Justiz Eingriffsversuchen der Mächtigen ausgesetzt; Adeligen und Staatsbeamten stand ohnehin ein qualifizierterer Rechtsweg als „Normalbürgern“ offen. Der Aktenprozess war geheim,  und es fehlte eine separate Anklagebehörde. Insgesamt spiegelte das Allgemeine Landrecht die ständisch-feudale Gesellschaftsordnung wider, die in Altpreußen noch stark ausgeprägt, im Rheinland aber in Folge der Französischen Revolution obsolet geworden war.

Kurzum, der Appellationsgerichtshof, dessen Bezirk sich von Kleve bis Saarbrücken erstreckte und der seit Inkrafttreten der Reichsjustizgesetze am 1. Oktober 1879 Oberlandesgericht hieß, stand für modernisiertes Recht. In dem Maße, wie der Rest des Landes  die  ursprünglich französische Rechtsgrundsätze übernahm, die die Rheinprovinz gleichsam weitervermittelte, neigte sich deren – so Laum – „historische Aufgabe“ dem Ende zu. Als am 1. Januar 1900 das Bürgerliche Gesetzbuch den Code civil ablöste, war die „Mission“ erfüllt. Weil das OLG  nun nicht mehr die Rolle des Obergerichts einer ausgedehnten Rechtsprovinz hatte, schlug man die Landgerichtsbezirke Düsseldorf, Elberfeld und Kleve dem neu gegründeten OLG Düsseldorf zu.

142 Richter, 1111 Rechtsbeschwerden

Das OLG Köln ist eines von drei Oberlandesgerichten in NRW. Sie gehören zur „Ordentlichen Gerichtsbarkeit“. Darunter sind die Gerichte zu verstehen, die hauptsächlich zuständig sind für die Entscheidung von Zivilrechtsstreitigkeiten – Rechtskonflikte, zwischen Privatleuten oder Firmen mit Ausnahme des Arbeitsrechts – sowie Strafverfahren einschließlich Ordnungswidrigkeiten.

Das Gericht ist vor allem Rechtsmittelinstanz: In zweiter oder dritter Instanz prüft es Urteile, die in einem Prozess an einem der drei Landgerichte oder der 23 Amtsgerichte seines Bezirks gesprochen und angefochten worden sind. Zudem befasst es sich mit Beschwerden gegen Beschlüsse der Landgerichte. Bei den Zivilsachen machen Familienangelegenheiten einen großen Teil aus. In Strafsachen hat das OLG oft mit Haftprüfungen zu tun. Außerdem ist es Rheinschifffahrtsobergericht.

Der Rheinische Appellationsgerichtshof begann 1819 mit 26 Richtern. Heute hat das OLG Köln 142 Richter. Sie sind in 29 Zivilsenaten und zwei Strafsenaten tätig. Rechtspfleger, Verwaltungsbeamte, Mitarbeiter der zentralen IT der Justiz NRW, Wachtmeister und Fahrer dazugezählt, sind am OLG 519 Menschen beschäftigt. (Stand: Ende März 2019).

Im vergangenen Jahr hat das OLG 2736 Familien- und 5261 andere Zivilsachen erledigt. Der Senat für Binnenschifffahrtssachen sprach fünf Urteile. In Strafsachen befanden die Richter über 276 Revisionen, 1111 Rechtsbeschwerden und trafen in 410 Haftprüfungsverfahren eine Entscheidung. (cs)

1911 zog das OLG Köln vom Appellhofplatz in das Justizgebäude am Reichenspergerplatz um, das nach Plänen des Geheimen Oberbaurats Paul Thoemer in neubarockem Stil erbaut worden war. Der Bau, den Heinrich Böll, der lange in der Nähe wohnte, „das Schloss des Kölner Nordens“ nannte, wird gern für Filmaufnahmen und Kulturveranstaltungen genutzt, vor allem wegen des prächtigen Treppenhauses.  Am 31. März 1933 wurde das „Schloss“ Schauplatz eines massiven Übergriffs des Naziregimes: SA- und SS-Leute stürmten das Gebäude,  um alle jüdischen oder „jüdisch  aussehenden“ Juristen festzunehmen und zum Gespött der Menge  auf offenen Müllwagen zum Polizeipräsidium zu bringen. Die Gerichtspräsidenten des Bezirks wurden aus ihren Ämtern gedrängt.

Mit politischen Strafsachen war das OLG im Dritten Reich nicht  direkt befasst. Manche allgemeinen Strafsachen hatten allerdings politischen Charakter. 1936 hob der Strafsenat mehrere Haftbefehle gegen katholische Ordensangehörige, denen Sittlichkeitsdelikte zur Last gelegt wurden, mit der Begründung auf, die Gestapo habe  gegen die Strafprozessordnung verstoßen.  Das Regime schlug zurück: Die Richter wurden gezwungen, die  Beschlüsse zu ändern, und der Strafsenat wurde aufgelöst und umbesetzt. Laum: „Dieser Fall ist wohl der einzige,  in dem ein Gericht die Gestapo so rücksichtslos  kritisiert hat.“

Im Krieg wurde das  Gebäude am Appellhofplatz stark zerstört. Am 10. Januar 1946 wurde das OLG Köln  im notdürftig wiederhergerichteten  Saal des Strafsenats wiedereröffnet.   Von 1948  an hatte der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone, eine von den  Besatzern eingerichtete Revisionsinstanz, seinen Sitz in einem Saal des OLG; mit Gründung des Bundesgerichtshofs 1950 wurde dieses Gericht aufgelöst. In jenem  Jahr  fand der  endgültige Wiederaufbau des Gebäudes statt.

Noch einmal sollte das OLG Köln eine „Mission“ erfüllen:  Nach der Wiedervereinigung unterstützte es vor allem Brandenburg beim Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen. Dazu Ex-Präsident Laum: „Das Rheinland und das Kernland Preußen sind sich einmal mehr begegnet und haben sich gegenseitig befruchtet.“ Margarete Gräfin von Schwerin, seit Januar 2017 Präsidentin des OLG, sagt anlässlich des Jubiläums: „Trotz seines hohen Alters ist das Oberlandesgericht Köln  jung geblieben und gut aufgestellt für die Fortsetzung wegweisender Rechtsprechung mit Wirkung weit über das Rheinland hinaus.“