Das betrifft acht Prozent der Kinder. In Brennpunktgrundschulen sind es vielerorts ein Viertel. Was die Gründe sind und was passieren müsste.
Kölner GrundschulenZahl der Wiederholer der ersten Klasse bleibt auf Rekordhoch

Viele Kölner Erstklässler wiederholen am Ende des Schuljahres die erste Klasse.
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Die Zahl der Kölner Erstklässler, die im Sommer das erste Schuljahr wiederholen werden, bleibt auch in diesem Jahr auf Rekordhoch. Insgesamt 760 Kinder werden in den Kölner Grundschulen im kommenden Schuljahr „in der Schuleingangsphase verbleiben“, wie das in der Sprache des Schulgesetzes heißt. Diese Zahl nannte die Stadt auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Damit bleibt die Zahl der Wiederholer im Vergleich zum Vorjahr nahezu unverändert hoch und entspricht einer Quote von rund acht Prozent des Jahrgangs. Im vergangenen Jahr waren es 780 Kinder. Zum Vergleich: Im Schuljahr 2023/24 waren es noch 640 Kinder und im Schuljahr davor 484 Kinder. Das bedeutet ein Anstieg um mehr als 50 Prozent in den vergangenen drei Jahren.
Viele sozial benachteiligte Schüler wiederholen erste Klasse
Dabei ist die Zahl der Wiederholer an Schulen mit hohem Sozialindex – also einem großen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler – besonders hoch. Bei der Auswertung des vergangenen Jahres waren in mehr als einem Dutzend Kölner Grundschulen mindestens 20 der Erstklässler als Wiederholer gemeldet, an einigen Grundschulen waren es ein Drittel der Erstklässler.
Die schulscharfe Auswertung für das kommende Schuljahr konnte die Stadt noch nicht vorlegen. Eine aktuelle Umfrage der Wübben-Bildungsstiftung unter mehr als 200 Schulleitungen an Schulen in sozialen Brennpunkten mit Schwerpunkt in Nordrhein-Westfalen ergab, dass dort knapp jedes vierte Kind die Regelzeit an der Grundschule überschreitet.
Die Hälfte der angehenden Erstklässler mit auffälligem Sprachbefund
Der Hauptgrund für die hohe Zahl der Wiederholer sind zu geringe Sprachkenntnisse. „Wenn ich den Kindern mit der Anlauttabelle die Buchstaben A wie Apfel und B wie Baum vermitteln will, funktioniert das für viele Kinder nicht. Sie wissen nämlich nicht, was ein Apfel ist, weil sie das Wort nicht kennen“, bringt Dirk Külker, Schulleiter der Grundschule Merinstraße in Lindweiler, anschaulich auf den Punkt. Die Zahl der Kölner Kinder, die ohne ausreichende Sprachkenntnisse eingeschult werden, steigt stetig. So wurden in Köln bei knapp der Hälfte der Kinder bei der Schuleingangsuntersuchung vor der Einschulung ins erste Schuljahr ein auffälliger Befund bei der Sprachentwicklung festgestellt.
Das innerhalb der wenigen Monate bis zum Schulstart aufzuholen, ist in vielen Fällen schlicht unmöglich. Dabei liegt das Problem viel früher: Ursache für die schlechten Sprachkenntnisse ist auch, dass immer weniger Kinder mit Migrationshintergrund eine Kita besuchen. In NRW sank der Anteil der Drei- bis Sechsjährigen mit Migrationshintergrund in den vergangenen zehn Jahren von 87 auf 69 Prozent. Das heißt, knapp ein Drittel hat in NRW im Jahr vor der Einschulung keine Kita besucht.
„Ein großer Teil der Kinder, die bei uns wiederholen, hat in der Tat keine Kita besucht“, bestätigt Ulrich Becker, Schulleiter der „Grundschule IM Süden“ in Meschenich. Je bildungsferner eine Familie ist, desto geringer ist die Kita-Quote, bestätigt auch das Kölner Institut für Deutsche Wirtschaft (IW) den Zusammenhang.
Über 1000 Kölner Vierjährige gehen nicht in den Kindergarten
Eigentlich werden in Nordrhein-Westfalen alle Kinder, die keine Kita besuchen, zu einem verpflichtenden Sprachtest eingeladen. In Köln gingen allein im vergangenen Jahr 1119 Kölner Vierjährige nicht in den Kindergarten. Von denen traten allerdings 890 Kinder – also 80 Prozent – gar nicht zu dem eigentlich gesetzlich obligatorischen Test an. Und das ohne Konsequenzen. Eigentlich schließen sich an den verpflichtenden Test nämlich verpflichtende Sprachförderkurse in einer Kita an. Die soll das örtliche Jugendamt sicherstellen. Am Ende nahmen in Köln aber nur 23 Kinder an Sprachförderkursen teil. Die Eltern hätten sich auf mehrfache Post der Stadt nicht zurückgemeldet, hieß es zuletzt im Schulausschuss zur Begründung auf Seiten der Stadt.
Christiane Hartmann ist Leiterin der James-Krüss-Grundschule, an der über 90 Prozent der Kinder Migrationshintergrund haben. Sie wundert nicht, dass so viele Eltern von Nicht Kita-Kindern auf die schriftliche Aufforderung der Stadt zum Sprachtest zu kommen, nicht reagieren. Sehr viele Eltern seien damit schon sprachlich überfordert. Briefeschreiben reiche da nicht. „Wenn ich als Stadt diese über 1000 Familien erreichen will und wirklich ein Interesse daran habe, dann muss ich zu denen hin.“ Auch das NRW-Schulministerium betont auf Anfrage, dass es die Pflicht der Stadt sei, dafür Sorge zu tragen, dass diese Sprachtests auch durchgeführt werden.
Das Land NRW will den Grundschulen ab diesem Herbst ein zentrales digitales Screening zur Erhebung des Sprachkompetenzen bei der Grundschulanmeldung zur Verfügung stellen. Daraufhin bekommen die Eltern dann Hinweise auf entsprechende Förderangebote. Bislang ist die Wahrnehmung aber freiwillig. Aufgrund der wachsenden Dimension des Problems prüft das Schulministerium derzeit allerdings, wie die Sprachförderung bis zur Einschulung verpflichtend gestaltet werden können, hieß es auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“.
Kinder mit Problemen bei Motorik und Konzentration
Neben dem Problem der fehlenden Sprachkenntnisse liegt der Grund für die hohe Wiederholerzahl daran, dass immer mehr Kinder Defizite bei den so genannten Vorläuferfähigkeiten haben. Das sind die Fähigkeiten wie Motorik oder Konzentration, die es braucht, um überhaupt lernen zu können: Ein hohe Zahl habe Probleme, sich allein die Jacke anzuziehen oder einen Stift in der Hand zu führen“, erläutert Külker.
Hinzu kommt der hohe Medienkonsum auch schon bei Kindergartenkindern: „Wenn ich jahrelang in einer passiven, spracharmen Konsumhaltung vor verschiedenen Bildschirmen verbracht habe, kann ich mir auch keinen Begriff von „Welt“ machen“, erläutert Hartmann. Grundschule brauche Zeit, „um den Kindern die zum Teil verloren gegangene Neugier auf die Welt, auf Schrift, auf Zahlen und vor allem auf die Gemeinschaft mit anderen Menschen wieder ins Herz zu legen.“
Große Schulplatznot bei Grundschulplätzen in Köln
Die derzeit einzige Chance, diese Defizite auch nur im Ansatz wieder aufzuholen, ist die Wiederholung des ersten Schuljahres, so Hartmann. Für ein Kind, das am Ende des ersten Schuljahrs nur die Hälfte des Alphabets kenne oder sich noch nicht souverän im Zahlenraum bis zehn bewegt, mache es keinen Sinn, im zweiten Schuljahr den Zahlenraum bis 100 zu erlernen. „Das Fundament muss stimmen“.
Für die Stadt Köln ist die konstant hohe Anzahl an Wiederholern allerdings angesichts der gravierenden Schulplatznot gerade an Grundschulen ein großes Problem. Allein im vergangenen Schuljahr mussten wieder 19 Mehrklassen größtenteils im Gebäudebestand eingerichtet werden, um überhaupt allen Kindern einen Schulplatz anbieten zu können. Schuldezernent Robert Voigtsberger hat ein wissenschaftlich begleitetes Projekt initiiert, mit dem Ziel, durch Befragung von Kitas und Schulen die Gründe zu analysieren und Handlungs- und Förderoptionen zu entwickeln. Wann die Ergebnisse vorliegen werden, ist unklar.
Dabei liegt für Kölner Schulleitungen von Grundschulen in sozialen Brennpunkten unisono klar auf der Hand, was wirklich helfen würde: „Wir brauchen ein oder zwei verpflichtende Kita-Jahre für alle Kinder“, so Hartmann. Dort müsse die verbindliche Sprachförderung ansetzen. Auch die nordrhein-westfälische SPD macht sich für ein solches verpflichtendes Vorschuljahr in der Kita aus und nennt es „Chancenjahr“.
Hohe Folgekosten für die Wirtschaft
Was das Land die aus diesen Defiziten resultierende unzureichende Bildung so vieler Kinder kostet, hat die Bertelsmann Stiftung sogar schon ausgerechnet: Deutschland verschenke ein „enormes Wachstumspotenzial“ heißt es in der gleichnamigen Studie. Die Folgekosten unzureichender Bildung durch entgangenes Wirtschaftswachstum summieren sich demnach für die Lebensspanne der heute geborenen Kinder auf rund 2,8 Billionen Euro.